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Endlich den Beruf gefunden
hat mit der berühmten Frage Nothschilds: „Meyer, wie denke ich über amerikanische Häute," die Thatsache beleuchtet, daß er sich in vielen Stücken auf die Autorität von Fachmännern verlassen müsse. Was aber von den ver- schiednen Fächern gilt, das gilt auch von den verschiednen Landschaften, Ve- völkerungsgruppen, ihren Zustünden und Stimmungen. Der leitende Staatsmann kann sich nicht über alle persönlich unterrichten, und auch wenn er ein Genie ist, kann es ihm sehr leicht begegnen, daß er, auf falsche Informationen gestützt, falsche Maßregeln trifft, und wer nun denen, die die Dinge aus der Nähe kennen, mit ihren Kenntnissen und Ansichten hervorzutreten verbieten will, der erweist der Negierung wahrhaftig einen schlechten Dienst. Außerdem: was in aller Welt sollte denn ein Staatsmann anfangen, der auf keinen Widerstand stieße? Ist etwa ein überall nachgebender Sumpf ein Boden, auf dem man stehen und schreiten kann? Wäre es möglich, in einem Wasser zu schwimmen, das keinen Widerstand leistete? Ist doch die physikalische Wahrheit, daß nur das stützt, was Widerstand leistet, und daß nur der Widerstand des Mediums die Fortbewegung ermöglicht, allgemein bekannt. Im luftleeren Raum würden Lerche, Schwalbe und Adler platt zu Boden fallen, und Bis- marck hätte nicht Bismarck werden können, wenn das deutsche Volk aus lauter gehorsamen Jasagern bestanden hätte. Daß das, was ich im nachstehenden zu sagen habe, von den Ansichten der Grenzbotenleser vielfach abweicht, wird sie nicht hindern, die Jrrgänge eines politischen Ketzers einiger Beachtung wert zu finden.
Schon früher habe ich erwähnt, daß schon vor 1870 meinen damaligen Glaubensgenossen sogar meine religiöse Rechtgläubigkeit verdächtig erschien, weil ich Bismarck in der Konfliktszeit nicht für einen politischen Heiland und von 1866 ab nicht für den Gottseibeiuns zu halten vermochte; unbegreiflich erschien mir in der Konfliktszeit die Blindheit der Liberalen, die nicht einsehen wollten, daß Bismarck ihr Programm ausführte. Dieses Programm war nicht das meine, da ich der großdeutschen Idee anhing, aber da ich sah, daß sich Österreich unfähig erwies, das großdeutsche Programm zu verwirklichen, so blieb natürlich nichts übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen und mit dem vorläufig Erreichten einstweilen zufrieden zu sein. Daß ich Bismarcks Virtuosität in der Durchführung seines Programms bewunderte, versteht sich ebenso von selbst, wie daß mir einige seiner Charaktereigenschaften: seine urwüchsige Kraft, sein natürlicher gesunder Verstand, seine Natürlichkeit sympathisch waren. Im Kriege von 1870 war ich selbstverständlich nicht mit halbem Herzen wie 1866, sondern mit ganzem dabei; aber die Person Bismarcks trat mir da hinter dem alten Kaiser, den großen Feldherrn und den deutschen Heeren zurück. Nach 1870 ereignete sich auch außer dem Kulturkampfe noch so manches, was mir entschieden mißfiel. Wärmer wurde meine bis dahin kühle und mit sehr vielen „aber" versetzte Bewunderung für Bismarck