512 Die deutschen Kolonisten an der Wolga
Geregelter Ackerbau, nach westeuropäischen Begriffen, ist diesen Kolonisten von jeher fremd gewesen und fremd geblieben. Bei ihrer Auswanderung war die Landwirtschaft auch in Deutschland noch auf einer sehr niedrigen Stufe, und dann machte die außerordentliche Fruchtbarkeit der ihnen überwiesen«» endlosen Flächen eine Wirtschaftsweise mit Viehhaltung und Düngung vollkommen überflüssig. Dieser Boden hatte thatsächlich eine Fruchtbarkeit, die den Kolonisten erlaubte, auf ein und derselben Stelle dieselbe Getreideart eine lange Reihe von Jahren anzusäen, bevor eine Abnahme des Ertrags bemerkbar wurde. Geschah das endlich, so ließ mau die bisher benutzte Flüche einfach liegen und wandte sich den daneben liegenden Flächen noch unberührten Ur- bodens zu, bis auch diese erschöpft waren, worauf man dann wieder weiter ging. An diese Art Wirtschaftsbetrieb, die sich in nichts von dem Jahrhunderte alten Raubshstem der südrussischen Bauern unterschied, hatte sich die Masse der Wolgakolonisten schon nach kurzer Zeit so gewöhnt, daß sie von einer andern Wirtschaftsweise schlechterdings nichts mehr wissen wollten. Die gewohnte Zuteilung neuer Ackeranteile bei Vermehrung der in einer Familie vorhandnen männlichen Köpfe, die Gewißheit, unter allen Umstünden im Besitz der nötigsten Existenzmittel zu bleiben und nötigenfalls Zeit seines ganzen Lebens auf Kosten der Gemeinde zu schmarotzen, ermöglichten es dem Haufen in gesetzlicher Weise ein reines Luderleben zu führen, und das glauben die Auswandrer jetzt in Sibirien wieder zu finden.
Was dem Haufen die früher so bequemen Landzuteilungcn besonders wertvoll machte, war der schon erwähnte Umstand, daß ohne die Genehmigung des Oberhaupts oder des Wirts eine Wirtschaft überhaupt nicht geteilt werden konnte. Diese Bestimmung ermöglichte den Herren Vätern mit vierzig Jahren oder noch früher den Rentier zu spielen uud sich zur Ruhe zu setzen, wenn sie nur das Glück hatten, recht viel Jungen zu haben. Um möglichst sichere und dabei unbezahlte Arbeitskräfte zu schaffen, wurden deshalb die Herren Söhne schon mit achtzehn Jahren zum Heiraten gewissermaßen gezwungen, wobei sie aber in der Regel mit ihrem Nachwuchs im väterlichen Hause blieben, sodaß in einem derartigen Hause — sehr oft in ein und demselben Zimmer — vier bis fünf, ja noch mehr Ehepaare mit einem Haufen von Kindern zusammen wohnten, der nach Dutzenden zählte. Die heranwachsenden Kinder wurden dann dazu angehalten, die empfangnen Landanteile in der gewohnten Weise zu bearbeiten und den Herren Vätern das Leben möglichst leicht zu machen. Bei Lichte betrachtet, war diese Einrichtung weniger eine Versorgung der Kinder als der Herren Väter.
Jeder wollte natürlich „Wirt" werden, um sich ein möglichst bequemes Leben zu verschaffen. Hätte nicht die Bestimmung bestanden, daß Wirtschaften nicht willkürlich geteilt werden dürften, so hätten sich die Söhne meist sofort nach ihrer Verheiratung und nach dem Empfang ihres Landanteils von den