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Meyers Konversationslexikon
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Meyers Ronversationslexikon

Wahrheit sucht der politische Standpunkt des Lexikons zwischen den Extremen auszugleichen und kommt damit den Absichten der sogenannten Mittelparteien ent­gegen. Eine vermittelnde Absicht ist nicht darin zu erkennen. Auch bei Fragen der neuesten Politik nnd bei Beurteilung von Persönlichkeiten, die dabei eine Rolle spielen, waltet schon jene Objektivität, die nicht mehr weit von pragmatischer Ge­schichtschreibung entfernt ist. Wenn z. B. in dem sehr ausführlichen Artikel über Eugen Nichter dieser alsVertreter des extremsten Individualismus" und als Bundesgenossealler antinationalen Elemente" gekennzeichnet wird, der trotz seiner großen Begabung als Redner und Finnnzpolitiker selbst seine eigne Partei ge­schädigt habe, so wird die spätere Geschichtschreibung, wenn sie diesem Mann über­haupt die Ehre einer ausführlichen Charakteristik erweist, dem Gesamtbilde des Meyerschen Lexikons kaum noch einen mildernden Zng beizufügen haben.

Ein Lexikon hat aber leider mit allen Tagesfragen und sehr vielen Persönlich­keiten zu rechnen, die die Welle des täglichen Lebens plötzlich an die Oberfläche hebt, die aber ans Mangel an dauerndem Interesse und wirklichem Gehalt bald wieder darunter verschwinden. Das Publikum will über diese Eiutagsfliegen Aus- kuuft habeu, weil dieser nnd jener Name immer wieder durch die Zeituugsreklame in den Vordergrund geschoben wird, und die Redaktion mnß sich, oft wider ihren Willen und ihre bessere Überzeugung, solchen Wünschen sügen und den künstlerischen und litterarischen Jndustrieritteru des Tages auf einige Jahre Obdach gewähren. Diese biographischen Notizen, die für das Gedeihen eines Lexikons viel wichtiger sind, als man glaubt, habeu iu der neuen Auflage ebenfalls an Objektivität, die Betroffenen werden sogar vielleicht sagen: an Kühle gewonnen. Fast in allen Ab­teilungen sind die schmückenden Beiwörter der Namen wieberühmt, hervorragend, ausgezeichnet, namhaft," die eigentlich gar nichts sagen, beseitigt worden. Wer in das Konversationslexikon hineinkommt, der ist ebennamhaft," d. h. wert, genannt zu werden; sonst würde man ihn beiseite lassen. Der Raum, der durch Be­seitigung solcher und andrer Allotria gewonnen worden ist, ist dafür andern Bio­graphien zn gute gekommen. Man wird z. B. an den Lebensbeschreibungen von Kaiser Wilhelm I., Bismarck, Goethe, Schiller, Jean Paul, Naffael, Michelangelo, Dürer, Rnbens ebenso sehr durch die Fülle des dariu aufgespeicherteu Stoffs wie durch die Form der Darstellung befriedigt werden, die jede Phrase vermeidet und nach künstlerischer Vollendung strebt.

Noch wichtiger für das Bildungsbedürfnis der Leser sind die geschichtlichen Einzeldarstellungen, die sich aus die Hauptländer beziehen. Ich habe sehr oft die Probe gemacht und immer gefunden, daß diese Darstellungen, wenn einmal den Spezialforscher das Gedächtnis im Stich läßt, sehr schnell den Zusammenhang der Dinge nachweisen und ans die richtige Fährte helfen. So war es nur auch die richtige Schlußfolgerung aus dieser bewährten Methode, daß die großen, mehrere Bogen umfassenden Darstellungen der Geschichte der Architektur, der Bildhauerkunst und Malerei uugetrennt blieben und nicht auf die einzelnen Länder verteilt wurden. Das wäre ebenso nnbeqnem wie unwissenschaftlich gewesen. Denn in gewissen Ländern hat es überhaupt keine autochthone Kunst gegeben, wie z. B. in Rußland, Dänemark, Portugal, und auch sonst fließen die Grenzen so unerkennbar zusammen, daß die Thatsache, daß die Knust kein Vaterland hat, und daß sie ein unzertrenn­bares Ganze ist, bei einer Übersicht über das ganze Deukmälermatcrial wieder bestätigt wird.

Dieselbe strenge Wissenschaftlichkeit ist auch bei der Zusammenstellung des Inhalts der Tafeln beobachtet worden, die zur Erläuteruug der ArtikelArchi-