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Wilhelm Jensen als Lyriker
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Wilhelm Jensen als Lyriker

ilhelm Jensen ist wegen seiner Romane einmal ein Realist genannt worden. Aber dieses Urteil trifft nicht zu. Kaum ein zweiter zeitgenössischer Schriftsteller steht dem Realismus so fern wie er. Hierin kann ein Lob liegen, es kann aber auch als Tadel auf­gefaßt werden. In Zeusens Romanen tritt nach meiner Meinung ein zu weitgehender Mangel an Lebenswahrheit hervor. Man stößt allzu häufig ans sachliche oder psychologische UnWahrscheinlichkeiten. Und wollte man seine Romantechnik mit dem Maßstabe der Spielhageuschen Theorie von der Objektivität des Dichters messen, so würde sie uicht bestehen können. Spiel­hagen darin ein Jünger Goethes und Schillers will, daß der Epiker mit seinem persönlichen Wissen von den Dingen und Personen, die er darstellt, Völlig hinter seiner Dichtung verschwinde; jede Einmischnng des Dichters in sein Werk ist ihm gleichbedeutend mit einer zeitweiligen Aufhebung des dichterischen Geschäfts. Freilich, diese vollendete Objektivität wird immer nur ein Ziel sein, das man nie ganz erreichen kann; gänzliche Absonderung einer persönlichen Beimischung das hielt Wilhelm Scherer mit Recht Spielhagen entgegen ist unmöglich. Aber bei Jensen ist auch nicht das leiseste Streben nach Objek­tivität bemerkbar, er ist der subjektivste Erzähler. Er kann seine persönlichen Empfindungen und Betrachtungen nicht zurückdrängen; er kann die Dinge nie sich felbst darstellen lassen. Er individualisirt seine Personen nicht; sie sind immer nur Trüger seiner eignen Ansichten. Er und sie sind eins. Durch diesen Maugel an Objektivität werden seine Romane dicht in die Nähe der Lyrik gerückt. Ganz abgesehen davon, daß er durch Einmischung von Lyrik schon äußerlich die beiden Dichtungsgattungen nicht streng scheidet, glaubt man in seinen Romanen oft mehr einen Lyriker als einen Epiker zu hören. Die Stimmungen darin sind oft zauberhaft lyrisch, sachlich durchaus nicht.

Trotz dieser Schwäche, die ja dem großen Publikum weniger deutlich wird als dem mäkelnden Kritiker, erfreuen sich Jensens Romane einer großen Be­liebtheit. Sie verdanken das der Fülle von Poesie, die der Dichter ver­schwenderisch über seine Werke ausgießt, die süß berauschend wirkt und das kritische Auge leise umflort. Kein Wnnder, daß seine dichterische Fähigkeit Grenzboten IV 1897 41