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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Wann, unter welchen Umständen, in welcher Stimmung, wem gegenüber der Schreibende ein Wort zu Papier gebracht hat, darnach wird nicht gefragt: er hat es gesagt, es ist schwarz ans weiß vorhanden, also war er doch auch nur ein gewöhnlicher Mensch, wonicht ein bedenklicher Charakter, und verdient seinen Ruhm nicht! Möchten doch die gierigen Herausgeber beherzigen, was der Herausgeber der Gedichte von Johanna Ambrosius, Schrattenbach, iu der Vorrede sagt: „Leider muß ich mich des schönsten Mittels, ein richtiges Bild von dem Wesen der Dichterin zu zeichneu, begeben, nämlich der Veröffentlichung ihrer an mich gerichteten Briefe. Mit schwerem Herzen thue ichs, weil diese Briefe fast noch unmittelbarer wirken als die Gedichte, und weil sie ein Schatzkästlein an reizenden Schilderungen und eigenartigen Gedanken sind. Aber ich will meiner neugewvuneueu Freundin die Naivität des brieflichen Verkehrs nicht rauben, und das geschähe unzweifelhaft, wenn sie jeden Brief mit dem störenden Gedanken schriebe, er könnte veröffentlicht werden."
Wir trauen keineswegs jedem Biographen eines neuern Dichters oder Künstlers die Absicht zu, einem solchen Publikum Futter zu liefern. Das Lebensbild, das Emil Kuh von Friedrich Hebbel gegeben hat, ist ein Werk ernstester, gewissenhaftester Überzeugung, die Abfassung war ihm, wenn wir nicht irreu, vom Dichter selbst testamentarisch übertragen worden, und er hielt unbedingte Aufrichtigkeit für seine Pflicht; und ähnlich mögen andre gedacht haben. Aber welchen Dienst die Anhänger Heines ihrem Helden damit geleistet haben, daß sie jeden Brief, jede Notiz drucken ließen, darüber werden sie sich schon klar geworden sein. Doch das Beispiel Gottfried Kellers liegt näher nnd ist wichtiger. Keller hatte vor länger als einem Jahrzehnt den Umgang mit Bttchtold abgebrochen, weil er nicht wünschte, der Welt einmal mit eben solcher Rücksichtslosigkeit abgemalt zu werdeu wie der arme Heinrich Leutholo. Später muß eiue Aussöhnung zustande gebracht worden sein, und nnn ist Kellers Befürchtung insofern zur Wahrheit geworden, als sein Biograph aufgenommen hat, was er irgend auftreiben konnte, wertlose Briefe, Äußerungen voll schweizerischer Derbheit, wie sie nahen Freunden gegenüber und im Scherze zulässig waren, aber von Fernstehenden falsch gedeutet werdeu müssen, Aufrichtigkeiten aus Augenblicke» übler Laune, uud auf dergleichen fußeu jetzt Urteile über den Dichter und Meuscheu, der doch in der That das, was die Welt wirklich interessiren kann, in seinen Büchern zur Genüge selbst hergegeben hatte. Ähnlich ist es Hehn ergangen. Daß sich jemand beim Briefschreiben schon das weite Lesepublikum vor Augeu hält, gehört doch, weuu der Fall Auerbachs ausgenommen wird, gewiß zu den größten Seltenheiten, und was vertrauensvoll den Angehörigen überlassen wird, gehört deshalb noch nicht vor alle Welt. Darüber kann wohl eine Meinungsverschiedenheit nicht bestehen, daß der Empfang eines Briefes oder dessen Erwerbung vou einem Autographenhäudler keinem ein unbedingtes Verfügungsrecht zucrteilt; wobei die Frage der Houoriruug für die Heransgabe nur flüchtig gestreift werden möge.
Wenn man die Anficht aufstellt, daß der Schutz des litterarischen Eigentums, der den Rechtsnachfolgern eines Autors für eine dreißigjährige Frist nach dessen Tode gewährt wird, auf Ungedrucktes ausgedehnt werden sollte, so wird zuverlässig ein Jammergeschrei erhoben werdeu: Dreißig Jahre! Wer fragt dauu noch nach dem Verfasser, seinen Tagebüchern und Briefen? Aber ist mit solchen Worten nicht schon diese ganze Art von Spekulation gerichtet? Einem Schriftsteller, dessen Werken man keine solche Lebensdauer zutraut, braucht kein Denkmal errichtet zu werdeu, uud dessen persönliche Angelegenheiten dürfen nicht der Neugier und der Skandalsucht zuliebe öffentlich breit getreten werden, sobald er die Augeu geschlossen hat.