München und Konstanz
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schön gezackte, das ist wahr, aber dennoch tote Felsen. Es stimmte mein Entzücken auf dem Gardasee herab, als ich mir überlegte, daß diese großartige, auf einer Seite rosarote, auf der andern violette Kulisse eben nur toter Fels sei, auf dem nichts wächst, und dem die Menschen hier ein Gärtchen, dort einen Saumpfad abzugewinnen (der an der Westseite des Gardasees bietet mitunter das Schauspiel eines reizenden Marionettentheaters, wenn sich eine ganze Karawane darauf bewegt) so unendliche Mühe haben. Auch würde man eine Landschaft, deren Hauptreize aus glänzenden Farbenflächen und auffälligen Umrisfen bestehen, nicht dauernd genießen mögen. Eine Rheinfahrt von Biugen bis Bonn ermüdet durch die Reihenfolge solcher Bilder, obgleich diese bei dem hier hinzutretenden reichlichen Grün einen weit gemütlichern Charakter tragen. Es ist damit ungefähr so wie mit kostbaren Zimmereinrichtungen, von denen Goethe sagt, sie seien nur für Leute, die nichts zu thun haben; beim Arbeiten störe dergleichen. So möchte ich eine Gegend mit auffällig schönem Gesicht nicht immer, nicht beim Arbeiten haben. Es gehört zum vollständigen Menschendasein, daß man alle Arten von Schönheiten kennt, aber der beständige Anblick von Schönheiten übt einen Nervenreiz aus, der entweder abstumpft oder die seelische Gesundheit beeinträchtigt. Am zuträglichsten für das Nervensystem uud die Seele dürfte die bescheidne und lebensfrische Schönheit unsrer deutschen Mittelgebirge sein, die Friedrich Ratzel vorm Jahre in der Deutscheu Rundschau so schön dargestellt hat. Und sogar die Kunst gedeiht besser in den Niederungen als auf den Höhen; ist es doch schon oft hervorgehoben worden, daß die Niederlande die größten Landschaftsmaler erzengt haben. Ein paar Bänme und eine Wasserfläche bieten, von verschieonen Seiten und bei verschicdnen Beleuchtungen gesehen, mehr Abwechslung als ein gewaltiges Hvchgebirgspanorama mit seiner starren, einförmigen Pracht. Freilich, in einer baumlosen Ebne oder auf einer Kiefcrnheide möchte ich nicht leben. Übrigens kann sogar nicht einmal der Eindruck des Großartigen und Erhabnen, deu man beim Anblick hoher Berge hat. ohne Phantasiethätigkeit und Wissenschaft zustande kommen, weil das optische Bild eines kleinen aber nahen Hügels genau dasselbe ist wie das eines gleichgestalteten hohen Berges in entsprechend größerer Entfernung; wer diese Entfernung nicht kennt, auf den macht der Anblick wenig Eindruck.
Zu den wunderlichen Widersprüchen, mit denen uns der Kulturfortschritt Plagt, gehört auch der zwischen unserm stetig wachsenden Bedürfnis nach Komfort und unsrer Sehnsucht nach der Waldeinsamkeit. Wir wollen überall bequem eingerichtete Gasthäuser fiuden und für unsre Beförderung gute Straßen und Bahnverbindungen zur Verfügung haben und beklagen uns dann, wenn es überall von Reisenden wimmelt, obwohl ohne dieses Gewimmel Straßen, Eisenbahnen und gute Gasthäuser nicht rentiren und daher uicht vorhanden sein würden. Vor zwanzig Jahren war es noch nicht ganz unmöglich, beide
Grenzbotcn II 1897 5>5