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München und Konstanz
schiedsfeier veranstaltet) erfuhr ich, daß der Kirchenvorstand soeben von dem Oberpräsidenten von Schlesien die Aufforderung erhalten habe, ein Führungszeugnis über mich auszustellen!
Von Konstanz hat mans nicht weit auf den St. Gotthard, und so hatte ich denn die Gelegenheit benutzt, in die hesperischen Gefilde einen Blick zu werfen. Es wäre zu viel behauptet, wenn ich sagen wollte, die Sehnsucht in die Weite aus dem engen Kreise heraus, in den ich gebannt war, wäre für meine Entscheidung im Jahre 1875 mitbestimmend gewesen, aber erleichtert hat mir die Aussicht auf den Südwesten unsers Vaterlandes und überhaupt auf mehr Bewegungsfreiheit den Entschluß, aus dem Harpersdorser Puppenhäuschen auszubrechen. Ich hatte mich viel mit der ältern deutschen Geschichte beschäftigt, und der Wunsch war natürlich, ihren Schauplatz kennen zu lernen. Ich hatte auch fleißig vaterländische Geographie getrieben — nicht als Gelehrter, sondern als Schulmeister — und, ein so schlechter Zeichner ich bin, doch meinen Schülern oft genug die deutschen Mittelgebirge, die Verzweigungen der Alpenkämme, die deutschen Flußsysteme aufgezeichnet, charcikterisirt nnd den Zusammenhang der Geschicke des deutschen Volkes mit ihnen klar zn machen gesucht. Wackcrnagels Preis des Nheinstroms, den ich als Quartaner im Schullesebuche gelesen hatte, war mir stets im Gedächtnis geblieben, und mein Wunsch, den Rennsteig des Thüringerwaldes zu sehen, den ich als elfjähriger Volksschüler im Unterricht kennen gelernt hatte, ist erst viel später erfüllt worden. So freute ich mich denn, im Jahre 1875 den Main, die Türme von Bamberg, die württembergischen Hügel, den Bergwall des Schwarzwaldes, die Nheinebne, den Nheingan, die Schweizerseen und die Alpenspitzen als alte liebe Bekannte begrüßen zu dürfen, das Bild, das sich meine Phantasie von ihnen gemacht hatte, im allgemeinen bestätigt zu finden und es im einzelnen berichtigen zu können. Ich habe es dann von 1875 ab durchzusetzen gewußt, daß ich jedes Jahr einen Ferienausflug machen konnte, und habe nach und nach alle Landschaften des deutschen Vaterlandes, zu dem ich Österreich rechne (mit Ausnahme Ostpreußens, Hessens, Westfalens und des Niederrheins von Bonn abwärts), Teile der Schweizer, Salzburger, Tiroler und Ostalpen, Lvmbardovenetien, ein Stückchen Toskcma und die wichtigsten deutsche» Städte mit Ausnahme von Frankfurt a. M. und Köln aus eigner Anschauung kennen gelernt. Das meiste freilich nnr im Fluge, aber doch hinlänglich deutlich, um das Bild festhalten zu können. Alles kann man ohnehin nicht sehen, wenn man nicht Reisender von Profession ist, und hat man eine bedeutende Anzahl charakteristischer Landschaften und Städtebilder gesehen, so läuft man nur noch wenig Gefahr, bei der Phantasiekonstruktion des übrigen grobe Schnitzer zu begehen; deshalb wird es mir nicht schwer, ans Rom und Neapel, auf Paris und London, auf die Fjords und Stockholm zu verzichten. Freilich, wichtiger als Berge nnd Seen, als Kirchen und Paläste sind die