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Die Tierfabel
Verherrlichung der Schelmerei warnen. Freilich würde das germanische Tierepos nach der Theorie Lessings gar nicht unter den Begriff der Fabel fallen. Aber selbst die äsopischen Fabeln, diese klassischen Mustcrkinder, lassen bei näherer Untersuchung erkennen, wie wenig sie ursprünglich das sein sollten, was erst im Laufe der Zeit aus ihnen gemacht worden ist. Wohl ist hinter jeder von ihnen die Moral mit aller wünschenswerten Deutlichkeit angegeben. Doch ist längst nachgewiesen, daß diese Sittensprüche oft äußerst schlecht znr eigentlichen Erzählung Passen, daß sie nicht der ursprüngliche Kern der Fabel sein können, sondern künstlich uud zuweilen sehr mühselig an sie angeklebt sind, kurz, daß diese moralischen Sprüche späte, vielleicht sehr späte Zusätze siud, etwa aus der Zeit, wo man die Fabeln Äsops als beliebte Übungsstücke in den athenischen Schulen mißhandelte. Diese Ansicht hat schon Jakob Grimm ausgesprochen. „Lehrhaft, sagt er, ist die Fabel allerdings, doch mich dünkt ihr erster Beginn nicht Lehre gewesen . . . Überall, wo uns das zur Moral ver- gohrne Getränk dargeboten wird, ist nicht mehr die frische epische Ticrfabel, sondern bereits ihr Nicderschlag vorhanden." Die neuere philologische Forschung hat diese Anschauung durchaus bestätigt. Damit ist denn ein bedeutender Schritt vorwärts gethan, das Problem geklärt: die moralische Tier- fabcl, dürfen wir jetzt sagen, ist nur ein Ausläufer der ursprünglichen Fabel, die als Schöpfung der Phantasie keinen engbegrcnzten sittlichen Zwecken dient, und deren Ursprung auf einem andern Gebiete liegen muß, als auf dem der trocknen Sittenlehre.
Als eigentlichster Kern der Tierfabel bleibt somit, wenn die Moral wegfüllt, nur der Parallelismus zwischen Tier und Mensch übrig. In allen Fabeln, sie mögen entstanden sein, wo sie wollen, erscheinen Tiere und ausnahmsweise auch Pflanzen oder unbelebte Dinge wie verkleidete Menschen, doch so, daß meist Hauptzüge ihres ursprünglichen Wesens unter dieser Hülle noch kenntlich bleiben. Wenn aber die Anschauung, der noch Lessing huldigte, in dieser Verkleidung eine besondre Absicht suchte, die allenfalls auch auf ciuem andern Wege erreicht werden könnte, so erkennen wir angesichts des aus aller Welt zusammenströmenden Stoffes, daß hier von absichtlicher Mummerei überhaupt keine Rede ist. Die Fabel enthält nicht Charakterzüge und Lehren, die mit Bewußtsein von Menschen auf das Tier übertragen sind, sondern sie entspringt einer bestimmten Vorstellungsschicht, aus der sie mit natürlicher Frische erwächst, und die allcu Völkern der Erde gemeinsam ist oder doch war. Die scharfe Trennung der Menschheit vom Tiere, das Gefühl unbedingter Überlegenheit des Meuscheu ist ein Ergebnis der Kultur; der primitive» Anschauung dagegen sind Tier und Meusch im wesentlichen gleich, sie sind einander verwandt, gehen auseinander hervor uud ineinander über, und wie der Mensch vielleicht schon vor seiner Geburt als Tier lebte, so glaubt er auch nach dem Tode in dieser Daseinsform fortzubesteheu oder selbst während des irdischen