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Die Tierfabel
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Die Tierfabel

Form ist.Die wahre Ursache, sagt Lessing wörtlich, warum der Fabulist die Tiere oft zu seiner Absicht bequemer findet als die Menschen, setze ich in die allgemein bekannte Bestandtheit der Charaktere. Gesetzt auch, es wäre noch so leicht, in der Geschichte ein Exempel zu finden, in dem sich diese oder jene moralische Wahrheit anschauend erkennen ließe, wird sie sich deswegen ohne Ausnahme von jedem darin erkennen lassen? Auch von dem, der mit den Charakteren der dabei interessirten Personen nicht vertraut ist? Unmöglich! . . . Man hört: Britaunicus und Nero, Wie viele wissen, was sie hören? Wer war dieser? Wer jeuer? In welchem Verhältnisse stehen sie gegen einander? Aber man hört: Der Wolf und das Lamm; sogleich weiß jeder, was er hört, uud weiß, wie sich das eine zu dem andern verhält." Als weitere Ursache, warum der Fabeldichter die Tiere verwendet, führt dann Lessing noch an, daß die Schicksale der Tiere weniger unsre leidenschaftliche Teilnahme erregen, uud daß sie deshalb geeigneter sind, unserm Verstand einen moralischen Satz zu verdeutlichen. Im übrigen freilich hält er die Tiere keineswegs für un­entbehrliche Bestandteile der Fabel, von seinem Standpunkte aus mit Recht. Wenn wir, sagt er, einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in der man den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine Fabel." Indem er dann noch die eben an­geführten Gründe für die Bevorzugung der Tiere hinzufügt, glaubt er nicht nur erwiesen zu haben, wie die Fabel sein soll, sondern auch gleich ihrer ge­schichtlichen Entwicklung gerecht geworden zu sein ein Irrtum des Zeit­alters, dem sich auch dieser geniale Geist nicht zu entziehen vermochte.

Für Lessing war vom Standpunkte seiner Zeit die Frage nach dem Wesen der Fabel durch seine Theorie in der That vollkommen erledigt; für den gegen­wärtigen Stand der Wissenschaft ist damit nur das Ergebnis einer langen Entwicklung genau bezeichnet, aber gerade das, was für uns jetzt das an­ziehendste uud lehrreichste ist, die Entwicklung selbst, völlig vernachlässigt. Es giebt kanm ein besseres Beispiel als dies, nm den Unterschied zu zeigen zwischen der ältern philologisch-ästhetischen, im Grunde ganz subjektiven Betrachtuugs- weise litterarischer Dinge, und der neuern, die entscheidend vvn der natur­wissenschaftlichen, rein objektiven Untersnchungsart beeinflußt ist. Wir ant­worten nicht nur anders ans die Fragen, wir fragen schon anders, wenn wir über Probleme der geistigen Kultur ins Klare kommen möchten. Dem Menschen des vorigen Jahrhunderts, der vor dem Lichte der Aufklärung endlich die Nacht dermittelalterlichen Barbarei" weichen sah, lag vor allem daran, eine Norm und ein Ziel seiner Bildung zu finden, zn lernen, wie er sich das Wesen reinen und edeln Menschentums dauernd zu eigen machen könnte. Die Kultur der Alteu schwebte ihm als ein vielleicht erreichbares, aber schwerlich zu übertreffendes Ideal vor Augen, als ein Maßstab aller Dinge, die mit der