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Maßgebliches und Unmaßgebliches
erwogen, aber sollten sie nicht den Mann in seiner Bedeutung und den Wert seiner besondern Mitteilung erkannt haben oder wenigstens erkennen können, nnd zwar nicht bloß in Linien, die erst nach Menschenaltern zu Umrissen werden können? Man sollte im Gegenteil meinen: was für Cnrlyle fast alles bedeutet, die soziale Frage, wäre noch niemals, solange die Welt steht, jedem einzelnen Menschen so nahe getreten wie heute, und da sollten wir allesamt solche Tölpcl sein und noch nicht sehen können, worin Carlyles Größe lag? Wozu also solche Subtilitäten, die uns etwas an eine Redensart einer alten Tante erinnern, nur daß darin die Zeitrichtuug umgekehrt und aus dem „noch nicht" ein „nicht mehr" geworden war. Wenn man nämlich mit ihr über eines ihrer Lieblingsbttcher sprechen wollte, so pflegte sie das alsobald mit der Wendung abzuschneiden: Man hat dafür kein Verständuis mehr. Mit dem „man" meinte sie natürlich alle außer sich.
Auch das folgende Urteil H. Grimms düukt uns seltsam. „Wer sich heute mit Carlyles Leben beschäftigt, wird nicht umhin könuen, von den vier Bänden der Briefe Notiz zn nehmen, die seine Frau schrieb, und die Fronde herausgegeben hat. Lassen wir auf sich beruhen, ob es gnt war, diesen nngeheueru Kehrichthaufen häuslicher Existenz sichtbar werden zu lassen; er ist nun einmal da, und es muß damit gerechnet werden. All dieser Schund wird die Zeit verzögern, wo wir den Manu uubefcmgeu uur nach seiucu bleibenden Werken beurteilen." Diese Bücher sind nun fast fünfzehn Jahre alt, sie sind längst ins Deutsche übersetzt worden, und unzählige Leute haben nicht etwa bloß „nicht umhin gekonnt," von ihnen Notiz zu nehmen, sondern sie haben sie wirklich gelesen. Und viele wieder unter diesen Würden es ohne Frage bedauern, wenn dieser „Schund" nicht erschienen wäre, für so wertvoll halten sie ihn. Wir lernen uämlich daraus für Carlyle, was doch wahrlich zum Wesen seiner Wissenschaft gehört, daß er — praktisch — sich selbst nicht helfen konnte. Er hat eine Wcltanschauuug, mit der er uns nachdenken lehren kauu, er kauu uns über manches trösten, vielleicht auch einzelne Menschen in einzelnen Dingen bessern, aber die Welt ändern uud verbessern, das kann er so wenig, wie es jemals eine Wissenschaft oder Knust können wird. Das also sehen wir an seinem eignen Leben. Und wenn übrigens eiu so einsichtsvoller Mann das Material dafür als Kehricht ansieht, so wäre es Wohl an der, Zeit, einmal ein besondres Kapitel über Herrn nnd Frau Carlhle für deutsche Leser zu schreiben.
Daß ein kleines Buch von Schulze-Gaevernitz (Carlyle, seiue Welt- vud Gcsellschaftsauschnuuug. Berlin, Ernst Hosmann u. Comp.) nnu schon in zweiter Auflage erscheint, beweist doch auch, daß mau sich bei uns jetzt viel mit Carlyle beschäftigt, vielleicht nicht immer so gründlich, um Essays darüber veröffentlichen zu können, aber doch gewiß nicht immer mit dem Verzicht, das Gelesene auch zu verstehen nnd es in weiterm Nachdenken sich fruchtbar zu machen. Das Buch ist keine Biographie, sondern es versucht, Carlyles Weltanschauung systematisch nach ihren einzelnen Abteilungen darzulegen. Es ist klar uud gut geschrieben, interessant zu lesen nnd eignet sich besonders gnt zur Einführung iu das Studium Carlyles, Der Verfasser ist bekanntlich Nationalökonom (der Ausdruck ciismal seiMes für seine Wissenschaft rührt übrigens nicht von Carlyle her, sondern von dessen Freunde, dem Ästhetiker Ruskin). Er ist der Meinung, daß Carlyles sozialpolitische Anschauungen sich iu ueuerer Zeit folgerichtig fortgebildet hätten in der Organisation der englischen Gewerkschaften uud Genossenschaften. Was Carlyle auf Grund seiner Kenntnis der wirtschaftlich zurückgebliebnen Verhältnisse der dreißiger uud vierziger Jahre uoch nicht hätte wissen können (er starb freilich erst 1381), das sähen wir, d, h. zunächst Schulze-Gaevernitz, erfüllt uud beinahe vollendet in der friedlichen