Maßgebliches und Unmaßgebliches
203
daß ich mit eurer Verachtung der Welle und der Anbetung des Kornfeldes nicht recht gleichen Schritt halten konnte. Mir ist eben wie dem Atheisten — der ich aber nicht bin, fügte er lächelnd hinzu — das siunenfnllige Einzelne allein das Wirkliche und Anziehende, und eure Welteinheit, euer Kornfeld ist mir wie jenem ein Nichts.
Es mögen bei mir ähnliche Gründe gewesen sein; genug, ich überwand diesen Spinozismus noch in den Univcrsitätsjahren, aber Spinozas einsame, rührende Gestalt, seine Treue gegen das sittliche Weltgesetz, wie er es verstand, hat den Primaner einst bezwungen nnd mir etwas in die Seele gepflanzt, das sich mit tausend Wurzeln nun in mir ausgebreitet hat, ich will nicht denken wie er, aber sein wie er.
(Fortsetzung folgt)
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Politik, Geschäft und Religion. Vor zwanzig Jahren wurde die Welt noch nicht so ausschließlich vom Geschäft beherrscht wie heute; man hatte noch Ideale, stritt noch um Grundsätze und ließ sich von beiden auch bei der Parteinahme ini russisch-türkischen Kriege leiten. Sehr lebhaft nahm man Partei. Die Konservativen nnd die Frommen — beides fällt ja größtenteils zusammen — sahen in den Russen Gottesstreiter, die an den Türken ein wohlverdientes Strafgericht vollstreckten, geknechtete und gepeinigte Christenbrüder befreiten nnd an der Stelle der bankrotten Jslamswirtschaft eine christliche Ordnung aufrichteten; daß einem richtigen Protestanten der Islam, von der Vielweiberei abgesehen, weniger anstößig sein muß als der grobe Aberglaube und Zeremoniendienst, der sich in Nnßland Christcntnm nennt, wurde in der Begeisterung für das hohe Ziel übersehen. Dagegen geberdeten sich die Liberalen, die sowohl in der Presse wie in den deutschen Parlamenten die Mehrheit hatten, sehr russophob und turkophil, wie man es nannte. Die Rufsophobie bedarf keiner Erklärung, die Türkenfreundschaft aber verstand sich bei der damaligen geistigen Strömung von selbst, sobald von der andern Seite die Rnssensache für die Sache des Christentums erklärt worden war. Unablässig wurde der Türke als der einzige anständige Mensch in der Türkei gepriesen, die Rajah als ein verkommnes Gesindel geschildert, und was die bnlx^riau »troeikiss anlangt, so hielt man diese für eine Erfindung Gladstoues und der Russen. Hente steht Europa, steht Deutschland den Ereignissen weit kühler gegenüber; soweit sich lebhaftere Teilnahme regt, wird sie durch nichts weniger als durch ideale Interessen bestimmt, und die Parteien haben die Stellung vertauscht. Rußland ist heute der Beschützer des Großtürken, demnach nehmen anch unsre Konservativen für diesen Partei. Die Fahrt des Bulgarenfürsten nach Berlin, wo er eine Unterredung mit dem dahin bestellten Krupp hatte, veranlaßt die Berliner Politischen Nachrichten, sich entschieden gegen etwaige bulgarische Auleihevcrsuche zu erklären, die höchst ungelegen kommen würden in einem Augenblick, wo die deutsche Politik einen Erfolg der türkischen Waffen wünschen müsse. Ja ein Blatt versteigt sich zu der Redensart: „Kein andrer europäischer Staat würde die von der Türkei bewieseue Geduld