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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reformen möglich, mit der Sozialdemokrntie vereint zu mnrschiren und dvch im entscheidenden Augenblicke getrennt zu schlagen? In besonders bemerkenswerter Weise ist dieser Frage ein Dozent für Nationalökonomie nnd Statistik an der Universität Bern, Dr. N. Reichesberg, näher getreten in einem Aufsatz „Wesen und Ziele der niodernen Arbeiterschutzgesetzgebuug," deu die kürzlich erschienene erste Lieferung des Jahrgangs 1897 der Zeitschrift für schiveizerische Statistik veröffentlicht. Sehen wir zu, wie er zu der Frage steht. Er ist sich zunächst der trennenden grundsätzlichen Anschauungen und Ziele der „sozinldemokratischen Partei" und der „Vertreter der bürgerlichen Sozialrcform" klar bewußt. Die Sozialdemokrntie, „die Partei des politisch vrganisirten Proletariats," meint er, vertrete gemäß ihrer besondern Auffassung des Staats, als einer Organisation der herrschenden Klassen, deu Standpunkt: „Der moderne Staat müßte sich selbst verleugnen, wollte er ernstlich an die Lösung des Problems unsers Jahrhunderts schreiten." Die Lösung der Arbeiterfrage bedeute nach der Ansicht der Sozialdemokratie „die vollständige Aufhebung der sich gegenwärtig bekämpfenden gesellschaftlichen Klassen, die planmäßige Organisation der Arbeit, die Verteilung des Einkommens nach Maßgabe der geleisteten Dienste." Die „vollständige Beseitigung der sozialen Misere" salle dieser Ansicht nach „geradezu mit der Aufhebung des modernen Staats zusammen." Dagegen brächten die Vertreter der bürgerlichen Svzialreform „dem Staate das unbedingte Vertrauen entgegen." Bon der Überzeugung ausgehend, der Staat habe für die Wohlfahrt „aller seiner Bürger Sorge zu tragen," richteten sie an ihn die Anforderung, er möchte sich der wirtschaftlich schwachen Volksklassen energisch annehmen, nm ihnen zu eiuer bessern Lebensstellnng zn verhelfen. Dadurch würde, nach Ansicht dieser Leute, „die Arbeiterfrage von selbst ihre Lösung finden, nnd zwar ohne daß es notwendig wäre, die Grundlagen der modernen Gesellschaftsordnung irgendwie anzutasten." „Es liegt auf der Hand, fährt er wörtlich fort, daß diese beiden Richtungen, die vor allem hier in Betracht kommen, sich niemals werden verständigen können. Die Ziele, ans welche dieselben lossteuern, liege» weit auseinander. Während die Sozialdemvlratie sämtliche Bedingungen der sozialen Differenzirnng, welch letztere sie als ciu Haupthindernis jedes weitern Kulturfvrtschritts erachten, beseitigt wissen wollen, sehen die Sozialreformcr gerade in dieser sozialen Gliederung das Ferment und das Charalteristikum einer höhern Gesellschaftsform. Es dürfte demnach klar sein, daß anch das praktische Handeln dieser beiden ansschlaggebcnden sozialpolitischen Parteien eiu sehr verschiednes sein muß."
Trotzdem warnt der Verfasser vor dein „Getrenntmarschircn" der beiden so bezeichneten Parteien; die Strecke sei immerhin noch ziemlich weit, die von ihnen gemeinsam, Hand in Hand zurückgelegt werde» müsse. Dazn gelangt er ans folgenden Erwägungen heraus.
Möchte das Mißtrauen, das „wir," so sagt der Verfasser, dem modernen Staate überhaupt entgegenbrächten, noch so berechtigt und begründet, und möchten wir noch so sehr von der Unzulänglichkeit der bisherigen Leistungen auf dem Gebiete der Sozialrefvrm überzeugt sciu, so dürften wir doch nicht außer Acht lassen, daß eine befriedigende Lösung der Arbeiterfrage „im Sinne nnd Geiste der sozialdemokratischen Partei" nur „successive" herbeigeführt werden könne, nnd daß namentlich „unter den gegebnen Umständen" die sozialreformatvrische Thätigkeit anch von den Anhängern „dieser" Partei als das Hanptmittel zur allseitigen Hebung der Arbeiterklasse erachtet werde» müsse. Im weitern müsse darauf hingewiesen werden, „daß gerade vom Standpunkt der sozialdcmolratischen Partei, die, im Vertrauen auf die Gesetze der wirtschaftlichen Entwicklnng, au den endgiltigen Sieg der Arbeitcrsnche den festen Glanbcn hegt, es nicht glcichgiltig sein kann, ob die Arbeiter-