Beitrag 
Der Zeitgeist im Heere
Seite
57
Einzelbild herunterladen
 

Der Zeitgeist im Heere

or kurzem führte mich mein Weg in eine kleine norddeutsche Stadt, deren Garnison einen militärischen Gedenktag feierte. Auch die Bürgerschaft schien an dem Feste lebhaft Anteil zu nehmen. Überall hingen verwaschne Flaggen aus den Fenstern, hie und da war auch ein Haus mit kargem Tannengrüu geschmückt, nnd durch die enge, mit Menschen gefüllte Straße sah ich gerade mit klingendem Spiel die Truppen zur Parade ziehen: voran die Musik, von lustig lärmender Jugend dicht umdrängt, dann den Hanptmcmn hoch zu Roß, und hinter ihm,^ von zwei schmucken jungen Leutnants geleitet, die Fahnen. Die eine verdiente kanm noch diesen Namen; es war nur noch ein armseliges Läppchen, mit Blut bespritzt, durchlöchert und zerfetzt, aber an der Spitze trug sie das Eiserne Kreuz, und zum Gedächtnis an die große Nuhmeszeit schlaug sich frisches Eichen­laub darum. Wie prunkvoll und stolz erschien daneben die zweite Fahne! Ihr leuchtendes Not zeigte noch keinen Makel, und in schweren Falte» rauschte die goldgestickte Seide iu der Luft. Freilich das Kreuz und der Laubschmuck fehlten nn der Spitze, - aber nur wenige achteten darauf. Als die Musik verklungen nnd die Truppe vorüber marschiert war, kam mir der Gedanke, wie trefflich sich doch in jeder der beiden Fahnen die Zeit widerspiegelte, ans der sie stammte. Die eine, in all ihrer Einfachheit ein Zenge der ruhmvollsten Zeit der preußischeu Heeresgeschichte, die andre ein Sinnbild der neuesten glanzvollen kaiserlichen Tage.

In der That, deutlicher als in diesem Bilde kann wohl der gewaltige Umschwung nicht zur Anschauung kommen, der sich im letzten Jahrzehnt auf dem Gebiet des Heerwesens bei uns vollzogen hat. Die Zeiten, wo man die Überlieferungen um ihr selbst willen pietätvoll schonte, sind vorbei; der frische Grenzboten II 1897 8