548 Maßgebliches lind Unmaßgebliches
liberalen Militär für die Wahlmache zur Verfügung gestauden habe, so dürften in Cisleithanien die Christlich-sozialen das gleiche fordern. Ans welcher Seite am meisten gelogen wird, vermögen wir auch hier nicht zu entscheide». Gegen die Antisemiten spricht der Umstand, das; einer ihrer Führer, der Abgeordnete Schneider, wegen öffentlicher Verleumdung eines sozialdemokratischen Kandidaten gerichtlich verurteilt worden ist, und daß der Prinz Liechtenstein in einer Wählerversammlung behauptet hat, die Sozialdemokratie bekämpfe alles, nur nicht das mobile Kapital. Thatsächlich hat sich an die großen Jnden außer den Sozialdemvkraten noch niemand gewagt, nnd die Arbeiterzeitung dnrfte frage»! Wo war denn die antisemitische Presse, als es galt, den Säckel des Volkes bei der Verstaatlichung der Nordbahn gegeu die Griffe des Herru vou Taußig zu schützen? Wo war sie, als die Ostraner Bergarbeiter gegen Rothschild und Guttmann den Vcrzweiflnngslampf führten? Ist ihnen Rothschilds Geld noch zu wenig jüdisches, zu wenig mobiles Kapital? Den Umstand, daß die Staatsanwaltschaft die ganze Zeit über der Arbeiterzeitung Schimpffreiheit gewahrt hat, möchten wir uicht als Beweis dafür gelten lassen, daß alles, was darin gestanden hat, wahr sei. Wir rechnen diese Zurückhaltuug des Stnats- anwalts mit der Weigerung des Grafen Kielmannsegg uud dem amtlichen Dementi des „mein lieber I)r. Lneger," womit der Kaiser den zweiten Bürgermeister auf dem Stadtball angeredet haben soll, zu den Symptomen einer unbehaglichen Stimmung, in die sich die Regierung durch die Siege der Christlich-sozialen versetzt fühlt; die Judenliberälen scheinen ihr bequemer gewesen zu sein. Auch hier kommt übrigens wenig darnnf nn, auf welcher Seite am meisten gelogen wird; das wesentliche ist, daß es in der Reichshanptstadt nur noch zwei Parteien giebt, die Christlichsozialen oder klerikalen Antisemiten nnd die Svzialdemokraten.
Das allermertwürdigste bleibt immer das wunderliche uene Wahlrecht selbst. Man hat auch in Österreich empfunden, daß man den dienenden Klassen unmöglich alle staatsbürgerlichen Pflichten aufbürden kann, ohne ihnen einige politische Rechte zu gewähren. Ihnen aber diese Rechte iu wirksamer Weise zn sichern fürchtet man sich, darum hat man dieses verzwickte Wahlsystem geschaffen, das ihnen formell Rechte gewährt, diese aber thatsächlich ziemlich unwirksam macht. Noch vvllkvmmner wird freilich dieser Zweck dnrch die Preußische Dreiklassenwnhl erreicht, bei der das Wahlrecht der dritten Klasse (zu der in den größern Städten außer deu Arbeitern auch die meisten Handwerker nnd Beamten gehören, an manchem Orte so ziemlich die gesamte Intelligenz) ganz illusorisch ist, weil sie von den stets Verbündeten beiden ersten Klassen nnter allen Umstanden überstimmt wird. Wir finden diesen Ausweg aus einer der größten Verlegenheiten des modernen Großstaats, einen Ausweg, auf deu auch alle die Künsteleien hinanslaufeu, die mau zum Ersatz für das deutsche Reichstagswahlrecht vorgeschlagen hat, weder klng noch würdig. Wir haben vor Jahren einen andern Ausweg vorgeschlagen, der nichts unwürdiges an sich hat und die beiden entgegengesetzten Zwecke anfs vollkommenste vereint, indem er den dienenden Klassen zu ihrem Rechte verhilft, vhue irgend welche Gefahr für den Staat zn enthalten. Entweder man behält das allgemeine gleiche Wahlrecht bei und führt es dort ein, wo es noch nicht besteht, verwandelt aber die gesetzgebenden in bloß beratende Körperschaften. Oder man läßt die gesetzgebenden Körperschaften bestehen, verleiht aber nur deu Besitzenden das Wahlrecht dafür; die Besitzlosen läßt man vollkommen frei aus ihrer Mitte Vertreter wählen (die Unterbeamten der verschiednen Klassen je einen Unterbeamten, die Landarbeiter der einzelnen Landschaften je einen, die Gewerkschaften der Provinzen und der Großstädte je einen aus ihrer Mitte), die nicht Sitz nnd Stimme im Parlament bekommen, sondern