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Zoll- und handelspolitische Aussichten
leichtert werden. Gewiß nicht, und was noch schlimmer ist, eine sorgfältige Abwägung der Interessen und ein Ausgleich der Interessengegensätze ist bei diesem Mißstande nicht möglich. Deshalb bezeichnet es der Staatssekretär als notwendig, als Grundlage für den Abschluß neuer Handelsverträge — der also auch hier wieder als unbedingt bevorstehend angenommen wird — vor allen Dingen einen viel spczifizirtern neuen autonomen Tarif aufzustellen. Er setzt hinzu, daß an dieser außerordentlich schwierigen Arbeit im Reichsschatzamt schon flüchtig gearbeitet, und daß — was sehr wichtig und beachtenswert ist — zu diesem Behuf über die einzelnen Positionen gruppenweise mit den Interessenten selbst verhandelt werde, um auf diese Weise eine Grundlage aus den Zugeständnissen der beteiligten Kreise heraus zu gewinnen.
Was ergiebt sich nun aus dieser Erklärung für die Zukunft unsrer Zoll- und Handelspolitik? Doch nichts andres, als was die Erklärung selbst klar und unzweideutig sagt, nämlich daß an der Wirtschafspolitik von 1879 ebenso wie an der Handelsvertragspolitik, was das deutsche Reich betrifft, festgehalten werden soll, daß aber für die Erneuerung der Handelsverträge die allgemeinen und besondern Klagen und Beschwerden, die über Zolltarif und Handelsverträge bisher laut geworden sind, und die Übelstünde, die sich gezeigt haben, gründlich geprüft und, so weit möglich, die Ursachen der Übelstände beseitigt werden sollen. Der autonome Zolltarif soll einer gründlichen Durchsicht und in Verbindung mit den beteiligten Kreisen Ergänzungen und Verbesserungen unterzogen werden, damit für den Abschluß neuer Handelsverträge eine bessere Grundlage und brauchbarere Tarifirung gewonnen werden. Jeder Partei im Reiche muß daran liegen, daß das in ausgiebigster Weise geschieht, und jede Interessengruppe der industriellen, Handels- und landwirtschaftlichen Kreise müßte es mit Freuden begrüßen, daß in den neuen Handelsverträgen nicht nur ihre eignen, sondern auch die Interessen der andern Gruppen möglichst Berücksichtigung finden sollen. Denn nur auf Grund des Ausgleichs aller Interessen kann das allgemeine Wohl gedeihen. Wenn dabei auch die landwirtschaftlichen Jnteresfen, soweit es das Allgemeinwohl zuläßt, die gebührende Berücksichtigung finden, so heißt das durchaus noch nicht agrarische Wirtschaftspolitik treiben; es ist vielmehr ein Ziel, das aufs innigste zu wünschen wäre, daß auch die landwirtschaftlichen Interessen durch unsre Wirtschaftspolitik Förderung fänden. Denn es ist falsch, wenn man von liberaler Seite jede Fürsorge für das Gedeihen der Landwirtschaft als Agrarpolitik vor der Öffentlichkeit denunzirt, ebenso wie es falsch ist, daß man sich auf agrarischer Seite geberdet, als wären die landwirtschaftlichen Interessen die einzigen, die staatlicher Förderung und Unterstützung bedürften. Denn die Frage ist nicht: Industrie- oder Agrarstaat? sondern der moderne Staat kann mit seiner Wirtschaftspolitik nur das eine verfolgen: die Förderung aller Interessen aller wirtschaftlichen Zweige, soweit das in seinen