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Antiker und moderner Militarismus
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Antiker und moderner Militarismus

Nun sind in den Grenzboten kürzlich zwei schon sehr verbreitete, aber völlig irrtümliche Anschauungen zu Worte gekommen, die geeignet sind, den Sinn der ganzen Einrichtung überhaupt in Frage zu stellen, die aber dem Geiste Scharnhorsts völlig fern gelegen haben.

Der eine dieser Irrtümer ist, daß Scharnhorsts Ideal auf das abgezielt habe, was man heutzutage kurzweg mit dem Namen Milizsystem bezeichnet, und der andre liegt darin, daß eine Verteidigung des Vaterlandes und natürlich auch seiner Lebensinteressen, wie wir gleich hinzusetzen wollen, damit die Sache völlig klar werde eben auch militärisch nur eine Abwehr des Feindes von der von uns bewohnten Scholle nötig mache.

In ersterer Beziehung ist darauf hinzuweisen, daß Scharnhorst überhaupt kein theoretisches Ideal zn verwirklichen geneigt war, sondern praktisch die Frage zu lösen hatte, auf welche Weise man unter den damaligen Verhältnissen die Franzosen aus dem Lande zu schlagen vermöchte. Vei allen seinen Reformen mußte er damit rechnen, binnen kürzester Zeit den Entscheidnngskampf auf Tod und Leben sozusagen über Nacht ausbrecheu zu sehen, und für diesen war alles auf die Beine zu bringen, was eine Flinte oder eine Pike halten konnte. 1809 und mehr noch 1811 war schon der Krieg in Sicht, wie wäre es da möglich gewesen, ein System durchzuführen, das erst nach einer lüngern Reihe von Jahren die Reihen der Kämpfer füllt. Man mußte sich helfen, wie man konnte, und man half sich, das war die Hauptsache. Ferner mußte man den Ent­scheidungskrieg uuter den Augen und unter dem Drucke des mißtrauischen Feindes vorbereiten, der jede von ihm gemißbilligte Regung in brutalster Weise unterdrückte. Diese Umstände dürfen nicht vergessen werden, wenn der Sinn der thatsächlich getrvffnen Anordnungen beurteilt werden soll. Diese Anord­nungen sind den vorhcmdnen Mitteln nnd Verhältnissen, sowie der zu er­füllenden Aufgabe genau angepaßt, und halten sich von aller Prinzipienreiterei so fern, daß noch zu Anfang der dreißiger Jahre ein Historiker wie der Pro­fessor Johannes Voigt nussprechen konnte, Scharnhorst sei zwar ein gebildeter, aber so einseitiger Soldat gewesen, daß es kaum abzusehen sei, wie in seinem Geiste die Idee einer Landwehr oder Volksbewaffnung habe entstehen können, während andre ihn für einen Gegner der stehenden Heere und einen Vertreter des Milizsystems angesehen haben und zum Teil wohl noch heute ansehen. Beides ist falsch. Boyen, einer der nächsten Vertrauten Scharnhorsts, giebt in seinenBeiträgen zur Kenntnis des Generals Scharnhorst" dessen allgemeine Anschauung dahin wieder, daß erden Ordnungssinn, den Gehorsam, das Ehrgefühl und den kriegerischen Geist, der sich bei richtiger Behandlung in den stehenden Heeren erzeugen läßt, fehr hoch hielt und sogar glaubte, daß, je weicher die Sitten der Nationen würden, die Staaten desto mehr besondrer Kriegsanstalten bedürften, in denen ebenso die Kriegswissenschaft fortschreitend praktisch ausgebildet, als auch kriegerische Formen nnd Gesinnungen zur Selb-