Das schlimme Karlchen
ünfzig Jahre und länger ist es her, daß Licbig in Gießen Chemie lehrte und sein Laboratorium hielt, das erste in Deutschland, worin auf diese Weise und in diesem Umfange gearbeitet wurde. Die ältern Leute sprechen noch jetzt davon, wie von einem goldncn Zeitalter, und „zu Liebigs Zeiten" ist für sie eine stehende chronologische Bezeichnung, wie oonsuls Ng.Mo. Männer aus aller Herren Ländern, alte und junge, kamen, arbeiteten und gaben viel Geld aus, manche blieben auch oder bauten doch zu vorläufigem Aufenthalt schöne Häuser, andre gingen, nahmen aber die Töchter des Landes mit sich, und allen diesen Segen verdankte man dem Vater Liebig. Was Wunder, daß die Stadt ihn hoch zu ehren suchte! Sie schenkte ihm ein großes, reizend gelegnes Gartengrundstück, die sogeuauute Liebigshöhe, und als er einen Ruf nach München erhielt, illuminirte mau ihm zu Ehren, und der alte Lenz vom „Felsenkeller" schrieb ans sein Transparent: „O großer Vater Liebig, an deiner Stelle blieb ich." Aber Vater Liebig blieb bekanntlich nicht, sondern verkaufte Haus und Garten, und die Liebigshöhe erinnert heute nur noch mit ihrem Namen an die längst vergangnen Tage.
Selten ist wohl ein akademischer Lehrer so im edelsten Sinne des Wortes bei seinen Schülern beliebt gewesen wie Liebig, und es ist merkwürdig, wie ganz verschiedenartige Menschen sich in diesem Verhältnis gleicher Pietät zu ihm zusammenfanden. Die ältern unter ihnen, zum Teil selbst berühmte Männer, sind fast alle gestorben, einige erst in den letzten Jahren. Zu diesen gehört ein ungleichartiger, ganz eigentümlicher Genosse, den man nach seinem spätern Leben schwerlich in diesem Kreise suchen wird, eine Erscheinung für sich. Es ist das »schlimme Karlchen." So hieß nämlich Karl Vogt in seiner Jugend, als er in Gießen Medizin studirte, bei seinen Freunden in Liebigs Laboratorium wegen seiner tollen Einfälle nnd Streiche. Das Diminutiv paßte nicht auf die körperlichen Verhältnisse des jungen Necken, es war ciue freundliche Zugabe ihres Humors. Er hatte seine Studien noch nicht beendet, als er aus dcr Heimat floh, weil er wegen eines ziemlich harmlosen Vorfalls politisch verdächtig geworden war. Er ging über Straßburg in die Schweiz (sein Vater war seit einiger Zeit Professor der Medizin in Bern) nnd kehrte erst Grenzlwten I 1897 " !!8