Maßgebliches und Unmaßgebliches
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nur Kulemann, Freund, Wiener, eigentlich auch Bornhack — haben seit Jahren, obgleich sie weder Sozialdemokraten sind, noch zu ihnen hinneigen, die Berufsgenossenschaften als verfehlt bezeichnet, sondern auch eine Reihe von Handelskammern hat sich wiederholt für den Ersatz der berufsgenossenschaftlichen durch eine territoriale Organisation erklärt, und die Unzufriedenheit vieler Mitglieder, d. h. Industriellen, die nicht zu den leitenden Kreisen gehören, ist bekannt genug; wir haben namentlich die Handels- und Gewerbekammer zu Ludwigshafen ci. Rh. als bemerkenswertes Beispiel schon genannt. Daß heute die wiederholt und zuversichtlich in den Unternehmerkreisen verbreitete Behauptung, nur die Sozialdemokratie habe etwas an der berufsgenossenschaftlicheu Organisation auszusetzen, wenn diese Behauptung auch noch so unbegründet ist, ihre Wirkung ausüben kann, ist sehr wohl möglich. Vielleicht werdeu sich dadurch manche Handelskammervorstände etwas einschüchtern lassen und in den Jahresberichten fortan jede tadelnde Kritik einfach streichen. Um so mehr ist auf das Fehlerhafte dieser Taktik aufmerksam zu machen. Nichts sollte man heute im Interesse des Geineinwohls mehr vermeiden, als die arbeitenden Klassen in dem Glauben zu bestärken, daß sich nur die Sozialdemokratie ihrer Rechte gegenüber den Unternehmern — und darum handelt es sich in diesem Falle ganz ausgesprochen — annehme. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie und alle Bemühungen, die den Sozialdemokraten in neuester Zeit in ganz außerordentlichem Umfange nicht nur aus der Reihe der Sozialpolitiker von Fach, sondern überhaupt aus der der Gebildeten bedauerlicherweise zuströmenden Bundesgenossen von ihren Vorurteilen und Einseitigkeiten abzubringen, werden durch diese anmaßende, einseitige, ungerechte Haltung der übereifrigen Vertreter der Berufsgenossenschaft ungemein erschwert, ja völlig gelähmt.
Mit aufrichtigem Bedauern haben wir deshalb auch aus der Begründung des Gesetzentwurfs ersehen, daß die Regierung nach wie vor die angebliche „Selbstverwaltung" der Bernfsgeuosseuschaften als den Hauptgrund nennen zu dürfen glaubt, der die Vereinfachung der Arbeiterversicherung durch die Verbindung der drei Zweige der Uufall-, Kranken- nnd Juvaliditätsversicherung verbiete. Man höre den Wortlaut selbst: „Wenu nunmehr an die Revision der Unfallversicherungsgesetze herangetreten wird, so wirft sich(?) zunächst die Frage auf, ob dabei eine Verschmelzung dieses Zweiges der Arbeiterversicherung mit den verwandten Zweigen der Kranken- sowie der Jnvaliditäts- nnd Altersversicherung anzustreben ist. So wünschenswert indessen eine solche Zusammenlegung im Grundsatze sein mag, so läßt sich doch nicht verkennen, daß es bisher nicht geluugeu ist, dasür annehmbare Grundlagen zu fiudeu. Bei der Unfallversicherung mnß an der Forderung festgehalten werden, daß die berufsgenossenschaftliche Selbstverwaltung in ihrer segensreichen Wirksamkeit erhalten werde; denn die Berufsgenossenschaften haben sich der ihnen gestellten Aufgabe gewachsen gezeigt, und es kann nicht empfohlen werden, an die Stelle dieser bewährten Organisation eine anderweitige Einrichtung zu setzen, von der im voraus nicht feststehen würde, daß sie in gleicher Weise wie die Bernfsgenossenschaften dem öffentlichen Interesse und den Wünschen der Beteiligten gerecht werdeu wird."
Warnm hast du, alter, vortrefflicher Gneist, doch das LoltL'ovsi'lliusnt in so blendender Aufmachung ins liebe Deutschland importirt, obgleich du doch in England selbst gelinde Zweifel hegtest an seiner segensreichen Wirksamkeit, weil seit Anfang des Jahrhunderts die Politik der materiellen Interessen die Herzen des Volkes gewonnen hatte! Run müssen wir in Deutschland noch am Ende des Jahrhunderts unter dem Schlagwort „Selbstverwaltung" leiden, und sogar in einer Regierungsvorlage! Was ist denn das für eine Selbstverwaltung in den Berufsgenossen-