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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland : ein Nachklang zur Kaiserkrönung 1896 :
(Fortsetzung)
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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

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Uhren giebt; Turmuhren sind, glaube ich, nur zwei vorhanden, am Erlöser­thor des Kremls und am Straßnoikloster bei der Twerskaja. Auf vielen Kirchen sieht man wohl Uhren, aber sie zeigen die Zeit nicht an: es sind bemalte Zifferblätter, wie an den Schaufenstern unsrer Uhrmacher, sie zeigen jahraus jahrein dieselbe Stunde und Minute.

Bei uns ladet man einen Lastwagen so hoch wie möglich, um ja nur ein oder zwei Pferde und einen Kutscher zu brauchen. In Rußland sieht man z. B. bei einen Transport von Sand Dutzende von kleinen Wagen hinter­einander, je mit einem Pferd und einem Knecht; was bei uns zwei Pferde und ein Knecht in einem Wagen fortbringen, das wird dort auf fünfzehn Wägelchen, fünfzehn Pferde und fünfzehn Knechte verteilt.

Statt ein mal für eine Reihe von Jahren gut zu pflastern, wenn auch etwas teurer, wird alljährlich billig, aber liederlich und schlecht gepflastert. Statt die Häuser für ein paar Jahre mit Ölfarbe anzustreichen, greift man lieber öfter zu der billigern und bequemern Wafferfarbe. Und so allenthalben im täglichen Leben. Menschen und Menschenkraft werden gar nicht geschätzt und geschont. Daher z. B. die Menge von Bedienung in allen Häusern, man fragt gar nicht, ob man nicht mit einer geringern Zahl auskommen könnte; und wenn auch die Arbeitsteilung unter den Dienstboten meist mehr oder weniger eine in System gebrachte Bnmmelei ist, was mutet man andrerseits den Dienstboten alles zu! Wie rücksichtslos behandelt man sie! Da merkt man, daß mau nicht gar fern von Asien ist.

Diese zwecklose Verschwendung von Kraft und Zeit im täglichen Leben wird schwer zu überwinden sein. In kleinen Dingen zu rechnen widerstrebt der Natur des Russen. Man feiert die Feste, wie sie fallen und die Zahl der Festtage ist Legion, ohne Hast und mit viel Rast läßt man die Dinge gehen, statt sie zu führen. Kein Wort hört man so oft wie: Nitschewo! Es ist eigentlich unübersetzbar; der Sinn und Ton, in dem es gesagt wird, läßt sich etwa mitThnt nichts! Hat nichts zu bedeuten! Nur keine Aufregung!" wiedergeben. Nitschewo kann man auch als die stille Parole des gesellschaft­lichen Lebens in Nußland bezeichnen. Neben den Schattenseiten, die diese Lebensauffassung hat, kommt in ihr doch auch ein gewisses Behagen, eine sorglose Freude am Dasein zum Ausdruck.

(Fortsepuna folgt)

Grenzboten IV 1896

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