Lrlebtes und Beobachtetes aus Rußland
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Haber Russen, zehn bis fünfzehn, deren Inhaber Deutsche sind; einige der letztern befinden sich an der westlichen Grenze.
Weniger bedeutend, aber doch auch namhaft ist die Wollindustrie, auch diese jetzt meist von Russen, aber mit Hilfe deutscher Fabriklciter betrieben. Auch die Leinenindustrie ist russisch, und hier sind auch die technischen Leiter meist Russen. In der Seidenindustrie kommen die zahlreichen kleinen russischen Betriebe (mit Franzosen und Schweizern als Leitern) neben den großen französischen Häuseru in Moskau kaum in Betracht.
Die Entwicklung der Textilindustrie giebt eiu typisches Beispiel dafür, wie der Nusfe, den Fußtapfen der Deutsche« folgend, allmählich den Dentscheu zu verdrängen beginnt, besonders in allen Zweigen der Massenproduktion. Wie in der Textilindustrie, so wird er über kurz oder laug auch auf andern Gebieten festen Fuß fassen. Noch wird der überwiegende Teil der in Rußland bestehenden Unternehmungen von Nichtrussen betrieben; noch muß sich das russische Kapital die technisch geschulten Kräfte zum größten Teile aus dem Auslande hole», aber es fragt sich, wie lange das noch der Fall sein wird. Zwar kann man schon heute voraussagen: gewisse Gebiete, die ein sehr reiches technisches Wissen und sehr große Sorgfalt verlangen, wird er sich so bald nicht erobern. Die unermüdliche Sorgfalt, die gleichmäßige Gewissenhaftigkeit, wie sie der Deutsche hat, gehen dem Russen im allgemeinen ab. „Er hat nicht das Phlegma des Deutschen," sagte mir ein Kaufmann, der bezweifelte, daß die Russen überhaupt dauernd Erfolge auf industriellem Gebiet haben würden; „das Phlegma des Russen heißt aus gut deutsch Faulheit." „Die erdrückende Schwere, mit der sich der Russe an die Stelle des Deutschen setzt," so hörte ich einen ander» Handelsherrn sagen, dem ich manchen Einblick in diese Verhältnisse verdanke, „diese erdrückende Schwere ist auf Charaktereigenschaften begründet, um die wir den Russen nicht zu beneiden brauchen. Er saugt die Arbeiter iu unbarmherziger Weise aus, bis er sich reich gcnng glaubt; dauu baut er Hospitäler und Kirchen, um sich bei den Heiligen gut anzuschreiben. So üppig er iu seiner Lebensweise sein kann, so bedürfnislos und anspruchslos ist er, wenn es nicht anders geht. Es kommt ihm gar nicht darauf an, einmal jahrelang nichts zn verdienen, und es berührt ihn gar nicht unangenehm und erregt ihm keine Bedenken, eine mehr oder weniger schöne Gelegenheit zu benutzen, zu Mordiren und so einen fetten Batzen beiseite zu bringen. Er ist der geborne Feilscher, er weiß immer billiger zu kaufen, billiger zu arbeiten, billiger zu verkaufen als der Deutsche. Er ist schlau und znh." Das sind, scheint mir, Eigenschaften, durch die die Russen beinahe in Wettbewerb treten könnten mit dem „auserwählten Volke." Daß sie trotzdem noch nicht weiter gekommen sind, liegt eben an dem Mangel an Gewissenhaftigkeit und Sorgsalt nnd an ihrem „Phlegma."
An ihrem Phlegma liegt es auch, daß nach wie vor erst Ausländer