1Z4 Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland
Zunächst sind manche Zweige der Industrie, die früher in Rußland nicht vorhanden waren, jetzt dadurch in Nußland vertreten, daß deutsche Firmen während des Zollkriegs und auch schon vorher dicht an der Grenze zweite Fabriken ausschließlich für den Vertrieb in Rußland errichteten. So ist z. B. Lodz ziemlich schnell zu einer bedeutenden Fabrikstadt emporgewachsen. Ferner ist neuerdings in Polen eine rege Industrie entstanden, insbesondre sür die bis dahin nur aus dem Auslande bezognen Galanteriewaren. Diese Industrie ist wesentlich in jüdischen und iu deutschen Hündeu. Die gesamte Petersburger Industrie — und sie ist trotz des Aufblühens von Moskau noch sehr bedeutend — ist im Besitz von Deutschen, daneben auch von Engländern. Nur in der Tabakindustrie haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte russische Firmen Platz verschafft. Daß die Industrie der Ostseeprovinzen ganz und gar deutsch ist, braucht nicht gesagt zu werden.
In Moskau und im Innern Nußlands beginnen sich die Russen selbst mehr und mehr zu rühren. Die metallurgische Industrie z. B. (namentlich im Ural) gehört jetzt Nüssen uud wird von Russen geleitet. Die Eisenwerte in Südrußland sind im Besitz französischer und belgischer Gesellschaften, sie werden von Franzosen nnd Belgiern geleitet. Dasselbe gilt von den südrussischen Kohlenwerken. Aber eine sehr große Zahl von Fabriken aller Zweige, namentlich des Moskauer Bezirks, ist heute noch in deutscher Hand.
Einen Zweig der Industrie haben sich die Nnssen immer mehr erobert: den, der heute die größte Beachtung unter den russischen gewerblichen Unternehmungen verdient: die Textilindustrie, vor allem die Baumwolliudustrie. Begründet hat sie in Nußland ein Deutscher, Ludwig Knoop, ein kaufmännisches Genie; ihm ist es zu verdanken, daß diese Industrie im Sturmschritt Deutschland und Frankreich überholt hat uud heute nur von der englischen und amerikanischen übertroffen wird. Auf ihn geht die „Kreuholmer Manufaktur" in Narwa zurück, Spinnerei und Weberei, die größte Spinnerei der Welt; sie hat 430000 Spindeln neben 2160 Webstühlen in Thätigkeit und einen Jahresumsatz von etwa zwölf Millionen Rubeln.
Knoop war der Pfadfinder; iu den von ihm erschlossenen Weg ergoß sich massenhaftes russisches Kapital. Die technischen Direktoren dieser russischen Fabriken sind aber meist nicht Russen, sondern vorwiegend Engländer, auch Deutsche. Vor allem sind da die vier großen — von einander unabhängigen — Fabriken der Familien Morosvw zu nennen, alle in dem Moskauer Bezirk; sie nmfassen Spinnerei, Weberei, Färberei uud Druckerei und liefern namentlich jenen billigen bedruckten Kattun, der von der russischen bäuerlichen Bevölkerung so gern getragen wird. Die größte dieser vier Fabriken hat siebzehn, die kleinste zehn Millionen Rubel jährlichen Umsatz. Die Morosowsche Fabrik iu Twer allein beschäftigt gegen 11000 Arbeiter. Neben den Morosowschen giebt es aber uoch über zwanzig bedeutende Fabriken dieses Zweigs, deren In-