Litteratur
Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Von Adolf Biese. Berlin,
W. Hertz, 1«g«
„Wir können die Außendinge nicht anders verstehen, als von uns selbst aus, nicht anders uns nahebringen, als durch eine Umsetzung in das, was uus den Kern unsers eignen Daseins bedeutet, überall drängt es uns, sowohl das Äußere durch das im Innenleben erfahrne uns zugänglich zu machen, wie das Innere in dem Äußern zur Gestaltung zu bringen. Auf dieser anthropozentrischen Nötigung, auf diesem in unserm ganzen Wesen tiefbegrüudeteu Zwange, unser äußeres und inneres Wesen als das einzig relativ bekannte auf dem Wege der Analogie und der Assoziativn auf die Außenwelt zu übertrage», unsern Mikrokosmus zum Schlüssel des Makrokosmus zu machen, und andrerseits die innern Vorgänge auch in Äußerungen mannich- fnchster Art ausstrahlen zn lassen, beruht das Metaphorische, wie es uns auf allen Gebieten des geistigen Lebens entgegentritt, beruht die kiudlich naive und die religiöse und die künstlerische und die philosophische Vergeistignng alles Körperlichen nnd die Verkörperung alles Geistigen."
Die Sätze des vorliegenden Buches knüpsen unmittelbar an Bieses bekannte schöne „Philosophie des Metaphorischen" an, und das ganze neue Buch ist eiue fortlaufende induktive Erschließung ihrer Wahrheit an der Lyrik unsers Jahrhunderts. Ein deduktives Kapitel: „Wie soll ein lyrisches Gedicht genossen werden, uud was ist und wie entsteht ein lyrisches Gedicht?" bereitet den Leser auf die Einzel- beobachtnugen vor; diese beginnen dann bei der Romantik uud führen bis iu die Lyrik der Allerjüngfleu hinein. Man folgt Biese gern, man fühlt ein warmes Herz aus seinem Urteil heraus, es steht ihm eine adliche, anmutige Sprache zu Gebote, doch macht sich diesmal auch eiue gewisse Flüchtigkeit bemerklich, die z. B. einen bezeichnenden Ausdruck in der viermaligen Wiederholung der bildlichen Wendung „bis in die Fingerspitzen hinein" findet (S. 16. 28, 72. 252). Bei einem Dichter sind wir auch mit seinem Urteil nicht einverstanden: er unterschätzt Geibel. Ganz gewiß ist viel mattes, konventionelles, selbst unwahres iu Geibels Gedichten, und von Unmittelbarkeit der lyrischen Empfindung ist bei ihm oft weuig zu spüren, aber den männlichen Lebcnsernst kann ihm niemand absprechen, der die Junins- lieder, die beiden Dichtungen „Abends am Meere" uud „Eiuem Freunde" kennt. Auch daß ihm das Individuelle und Charakteristische fehle, ist nicht wahr; seine Eigentümlichkeit besteht eben darin, daß er sich selbst entäußert hat und mehr als andre zum reincu Gefäß geworden ist, freilich auch die Persönliche Wärme und allen Erdgeruch darüber eingebüßt hat.
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophcn. Gesammelte Grenzbotencmfsiitze von Rudolf Hildebrnnd. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, I89li
Mit Stolz und Freude bietet der Grcnzbotenverlag seinen alten und neuen Lesern diesen kleinen Band. Hildebrand, der berühmte Lehrer der deutschen Philologie, der hervorragendste Mitarbeiter des Grimmschen Wörterbuchs, der getreue Eckart des deutschen Unterrichts, hat hier das beste gegeben, was er hatte. Es ist gar nicht anders möglich, als daß diese Aufsätze, soweit ihre Gedanken nicht schon aus Hildebrands Lehrsaal, zuletzt aus der gemütlichen Stube seines Privatissimnms den Weg in deutsche Herzen gefunden haben, auch weitere Kreise mit ihrer treuen, grunddeutschen Art, mit ihrer goldneu Tiefe uud ihrem stillen Humor durchdriugcn und überall iu Deutschland innere Wohligkeit nnd Zuversicht zum Guten stärken werden.
Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig