Beitrag 
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Seite
82
Einzelbild herunterladen
 

Maßgebliches und Unmaßgebliches

Italienisches. Kein seltsameres Schicksal konnte Italien treffen, als daß es nach seiner Befreiung von der Ausländerherrschaft ein Militärstaat werden mnßte. Von ihren Vorfahren im Lande, den alten Römern, sind die Italiener der Geistes­anlage und Gemütsart nach das gerade Gegenteil; man könnte sie als die geistigen Nachkommen des ionischen Zweiges der Hellenen bezeichnen. Das natürliche Ware aber doch gewesen, daß sich die führenden Männer nach der Befreiung von der verdummenden Priester- uud Bourbonenherrschaft (die Habsburg-Lothringer im Norden hatten nicht schlecht regiert) mit Enthusiasmus auf die Entwicklung der geistigen Kräfte des Volkes geworfen hätten, auf die Pflege von Kuust und Wissen­schaft, von Industrie und Handel, worin das Volk im Mittelnlter so großes ge­leistet uud wozu es die Befähigung nicht verloren hat. Wie es wirklich gekommen ist, das zeigt eine Rechnung, die der berühmte Kriminalist und Abgeordnete Enrico Ferri jüngst aufgesetzt hat. Von den 1600 Millionen Ausgaben des ita­lienischen Budgets fallen 800 Millionen auf die Verzinsung der größtenteils un­produktiven Schuld; von den verbleibenden 800 Millionen erfordert das Militär­budget 350400, vom Rest geht die größere Hälfte auf die Besoldung einer Be­amtenschaft darauf, die keineswegs in dem Rufe großer Pflichttreue und Arbeitsamkeit steht, 100 Millionen werden auf die öffentlichen Bauten verwendet, bei denen es zugeht, wie man es im Lande der Banca Nomana erwarten kann, und den Kultur­aufgaben verbleibt der winzige Rest; seit 1881 scheint keine amtliche Statistik der Analphabeten mehr herausgekommen zu sein; gelegentlichen Angaben nach, die man von Zeit zu Zeit findet, würde das Ergebnis recht beschämend ausfallen für diese alte Wiege der europäischen Kultur.

War Italien vielleicht gezwungen, sich zum Militärstaat zu entwickeln, nm seine Unabhängigkeit wahren zu können? Nicht im mindesten. In alten Zeiten, wo die Kulturwelt klein und schwach, die Barbarenwelt groß nnd mächtig war, da war dieses Land das ersehnte Ziel der Raub- und Eroberuugszüge nordischer Völker, und auch die Römerzllge der Deutschen des Mittelalters sind noch vor­zugsweise von diesem Gesichtspunkte zu erklären. Aber heute ist die Kulturwelt groß und stark, die Barbarenwelt schwach, uud Eroberungszüge werden unternommen nicht von den Barbaren in die zivilisirten Gegenden, sondern von den zivilisirteu Völkern in die Gegenden der Barbaren. Auch sind die Zeiten für immer vorüber, wo die Bourbonen und die Habsburger Italien heimgesucht haben, um Seknndo- genituren für ihre Prinzen daraus zu schneiden; Österreich würde Oberitalien nicht wieder nehmen, wenn man es ihm schenken wollte. Hat Italien zu seiner Befreiung keiuer sonderlichen Militärmacht bedurft die Thronlein umzuwerfen, genügte eine Hand voll Freischärler, und Österreich haben die Franzosen und die Preußen aus dem Lande geworfen, so bedarf es ihrer jetzt schon lange nicht. Der Eifer, die Erinnerung an diese siir ein ehrlicbendes Volk einigermaßen be­schämende Thatsachen durch kriegerisches Gebahren zu verwischen, ist erklärlich, kommt aber doch xost loswirr und hat keinen rechten Sinn. Weder aus dem Be­dürfnis der Verteidigung, noch aus der Neigung des Volkes ist der italienische Militarismus hervorgegangen, er ist dem jungen Königreiche durch die bekannte Lage Europas aufgezwungen worden, die den bewaffneten Frieden fordert.

Dieser Zustand des bewaffneten Friedens ist nun in mehr als einer Beziehung widersinnig. Um nur die eine Seite, auf die es hier ankommt, hervorzuheben: