Die Homerische Frage
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ein Drittel sämtlicher Homerverse" (E. Schmidt, Parallelhomer, S. VIII). Und auch diese Zahl wird noch bedeutend vermehrt durch vereinzelt vorkommende Wiederholungen in andern Versen. In solchem Umfange finden sich jedenfalls Wiederholungen von Versen oder Versteilen auch nicht annähernd bei irgend einem uns bekannten Dichter. Auf sie hat deshalb auch in neuerer Zeit die Kritik besonders ihr Augenmerk gerichtet. Da man fand, daß einzelne Wendungen, ja ganze Versreihen an der einen Stelle besfer in den Zusammenhang Paßten als an einer andern, so wurde der auf den ersten Blick überzeugende Grundsatz aufgestellt, daß sie nur an der ersten Stelle ursprünglich gestanden hatten, an der zweiten oder dritten aber mehr oder weniger geschickte Nachahmung sein müßten. Damit war aber ein Mittel gefunden, nicht nur „echtes" von „unechtem" zu unterscheiden, sondern auch das Alter der einzelnen Teile von Jlias und Odyssee wenigstens relativ zu bestimmen, und von diesem Mittel ist reichlich Gebrauch gemacht worden.
Man mußte jedoch mißtrauisch über seinen Wert werden, wenn man sah, daß es zu Widersprüchen in der Auffassung führte, daß die einen eine Stelle für schön und echt hielten, die andre gerade als Erzeugnis „elenden Nachahmerstils" ansahen, und umgekehrt. Deshalb habe ich die ganze Frage eingehend untersucht (a. a. O.) und bin zu dem Ergebnis gekommen, das bisher uuwiderlegt geblieben ist, daß diese Wiederholungen allein kein hinreichendes Mittel bieten, das Alter einzelner Teile der homerischen Gedichte zu bestimmen, da, von andern Gründen abgesehen, sich selbst in den besten Teilen der homerischen Gedichte, in solchen, die die Kritik für die ältesten erklärt hat, sehr zahlreiche wiederholte Verse finden, die zum Teil hier weniger passen als an andern Stellen, und umgekehrt, daß in dem allgemein als ganz spät angesehenen vierundzwanzigsten Gesänge der Odyssee noch immer Szenen vorkommen, die hier angemessener sind als in frühern Gefangen, vor allein aber, daß die Wiederholungen so ziemlich in gleichem Verhältnis in ältern und jüngern Teilen Anwendung finden.
Wie ist diese überraschende Thatsache zu erklären? Man könnte annehmen, daß der Dichter, wie wir es von neuern Dichtern bestimmt wissen, einzelne spätere Teile früher gedichtet habe als die. die ihnen der Handlung nach vorausgehen. Aber dazu stimmen dann wieder nicht andre Szenen oder Verse, da sie hier schlechter passen als an der andern Stelle. So ist eine andre Erklärung vorzuziehen, die uns zugleich einen Blick thun läßt in die Dichtungsweise Homers und zu einer richtigern Wertschätzung seiner Kunst führt.
Die Sprache Homers ist wie keine andre formelhaft. Das geht soweit, daß in einzelnen Verbindungen die Sprache erstarrt oder versteinert genannt werden kann, d. h. gewisse Ausdrücke sind vielleicht schon vom Dichter nicht mehr verstauben, sicher nicht mehr lebhaft empfunden worden. Es gehören dahin vor allem die stehenden Beiwörter, die sich immer nn derselben Stelle Grenzboten I 1896 S8