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Die reine Interessenvertretung
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Die reine Interessenvertretung

unanständigsten Weise auf jedes Kaiserwvrt stürzen, um es für ihre Pnrtei- zwecke auszuschlachten. Und nirgendwo stünde doch gerade den regiernngs- sreundlichen Parteien eine würdige Zurückhaltung besser an als gegenüber den Äußerungen des Staatsoberhauptes. Wie sehr vernachlässigt dagegen die Presse im allgemeinen ihre eigentliche Aufgabe, die Stimmung des Volkes klar und un- zweideutig auszudrücken! Die Regierung und die Parteileitung finden fchon leicht Gelegenheit, ihre Wünsche und Absichten in Wort nnd Schrift ins Land hinaus­zutragen. Wie aber soll zu ihnen dringen, was man im Volke über ihre Wünsche und Absichten denkt, wenn nicht durch die Presse? Etwa durch deu Volksvertreter, der vielleicht zwei- oder dreimal jährlich in seinen Wahlkreis kommt? Wäre es nicht die verdammte Pflicht und Schuldigkeit gerade der Provinzialpresse gewesen, als von einigen Berliner Blättern und Korrespon­denzen dem deutschen Volke die Sehnsucht nach einem neuen Polizeigesetz unter­geschoben wurde, sich in ihrer nächsten Nachbarschaft einmal umznthuu, ob die Sehnsucht wirklich so brennend sei? Aber das Unwesen in der Presse wird nicht aufhören, so lange der Aberglaube herrscht, die wichtigste Kunst in der Politik sei das Stimmungmachen. Wie könnten anch Parteien, die stets mit einem Auge, seis begehrlich, seis argwöhnisch, nach der Regierung schielen, die Stimmungsmache entbehren! Dürfen sie doch ihre wahren Absichten sast nie offen aussprechen. Freilich kann ein großer Staatsmann, der sicher ist, die Fäden nicht aus der Hand zu verlieren, gelegentlich mit bestem Erfolge die Stimmung beeinflussen. Aber «Moä liest ^lovi, non liest vovi. Es ist etwas andres, ob Fürst Bismarck durch die Emser Depesche den Sturm der Kriegö- begeisterung in Deutschland entfacht, oder ob sich die Männlein vom neuesten Kurs wochenlang in der Presse die tollsten Staatsstreichgelüste zuschreiben lassen, nur um das richtigeMilieu" sür die Verhandlung der Umsturzvorlage zu schaffen.

Es ist merkwürdig, daß die ersten Ansätze zur Reformirung unsers Partei­wesens , in der Richtung auf eine unabhängige Machtstellung im öffentlichen Leben, von den beiden äußersten Flügeln ausgehen. In der Sozialdemokratie ist es die Vollmarsche Richtung, die es müde ist, alle ihre Handlungen durch deu nnfruchtbaren Grundsatz bestimmen zu lassen, der besteheuden Ordnung müsse das Lebe» so sauer wie möglich gemacht werden. Von der konservativen Partei aber spaltet sich die christlich-soziale Naumcmnsche Färbung ab, die ver­langt, daß man offen und ehrlich mit dem verkappten Streben nach der Allein­herrschaft in Staat nnd Gesellschaft breche. Beides sind nur schüchterne An­fänge; da sich aber auch in andern Parteien, sogar in der nativnalliberalen, ähnliche Bestrebungen bemerkbar zu machen scheinen, so ist die Frage nicht unangebracht, auf welchem Wege wir denn überhaupt zu ciuer Gesundung nusers Parteiwesens im Sinne der Verfassung kommen können. Die Antwort lautet der Leser wird aber gebeten, sich zn fassen, denn jetzt kommt ein