Die reine Interessenvertretung
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UM in dem wilden Trubel der Parteipvlitik das Steuer in fester Hand zu behalten. So konnte es nicht ausbleiben, daß seine Stellung unsicher und immer unsichrer wurde. Da hielten die alten Gegner des Fürsten Vismarck ihre Zeit für gekommen, sich in die Regierung hineinzudrängen: Freisinn und Demokratie scharten sich um den Kanzler und breiteten schützend ihre Arme vor ihm aus, während von der andern Seite die Agrarier gegen den verhaßten Urheber der Handelsverträge Sturm liefen. Als er aber gar nicht fallen wollte, da ersann der pfiffigste Kopf unter den Mißvergnügten eine schlaue Intrigue. An die Ermordung Carnots anknüpfend, verlockte der alte Rattenfänger die Partei, die seit Vismarcks Sturz zwischen rechts und links hin und her irrte wie eine verlassene Herde Schafe, verlockte sie durch die Aussicht auf einen Ministersessel oder gar die Kanzlerschaft, ein großes Geschrei zu erheben, das Vaterland sei in Gefahr, und Sitte und Ordnung müßten geschützt werden. Der Rattenfänger kannte seine Leute, und nie blühte der Hintertreppenverkehr zwischen einzelnen Teilen der Regierung und den Parteien mehr, als da das Zeichen: „Kampf für Religion, Sitte und Ordnung" am Himmel stand. Der Kanzler versuchte, sich zwischen Scylla und Charybdis der demokratischen Ungnade und der kaiserlichen Ungnade durchzuwinden und geriet natürlich erst recht in den Strudel.
Nie hat der deutsche Reichstag eine würdelosere Haltung gezeigt als in dem wüsten Raufen um die Person des zweiten Kanzlers. Als Herr von Koller den Reichstag später mit seiner spaßhaften Geringschätzung wie eine Versammlung von Schulbuben bediente, da hätten die grundsätzlichen Gegner des Fürsten Vismarck erkennen können, wie liberal der Alte in Wirklichkeit war, und wie thöricht liberale Männer darin handelten, sich selbst von der Mitarbeit mit ihm auszuschließen. Und als für die Caprivistürmer die Belohnung ausblieb, als die notleidenden Großindustriellen kein Knebelgesetz für Sozialdemokraten bekamen, und als den notleidenden Großgrundbesitzern bedeutet wurde, es eile nicht so sehr mit Antrag Kanitz und Doppelwährung, hätten auch sie wohl mit einiger Beschämung einsehen dürfen, was für ein erniedrigendes Geschüft das Ministerstürzen doch eigentlich für eine Partei des deutschen Reichstags ist.
Aber Selbsterkenntnis soll sür den einzelnen Menschen schon das schwerste Geschäft sein; für eine Partei ist sie noch um einiges schwieriger. Dafür sorgt schon die Presse. Es ist wirklich kaum glaublich, auf einer wie tiefen Stufe politischer Einsicht selbst große Parteiblütter stehen, sür die es nichts be- Mckenderes giebt als eine Mitteilung „aus maßgebenden Kreisen." Eine Nachricht mag noch so nichtssagend, eine Erörterung noch so papieren und geschmacklos sein, sie wird, mit eiuer pomphaften Einleitung versehen, abgedruckt, Wenn sie nur über die Hintertreppe eines Ministeriums oder aus dein Partei- büreau kommt. Geradezu ekelhaft aber ist es, wie sich solche Blätter in der