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Die reine Interessenvertretung
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Vie reine Interessenvertretiuig

liches Vertrauen. Ein Zug schüchterner Unterwürfigkeit lag dagegen wohl in dem Verhältnis des Bundesrats zum ersten Reichskanzler; wer will es den einzelnen Bevollmächtigten auch verdenken, wenn sie sich neben dein Niesen der Staatskunst etwas gedrückt vorkamen! Und gewaltig hat die Person des Fürsten Bismarck auch auf die Volksvertretung gedrückt und auf der einen Seite An­hänglichkeit bis zur Selbstverleugnung, auf der andern Widerstand bis zur Vcrbohrtheit geweckt. Dadurch wurde der alte Gegensatz: Anhänger der Regierung nnd Opposition unserm Parteiwesen von neuem tief eingeprägt Neichsfeinde und Reichstreue" war lange Zeit ein beliebter Ausdruck dafür, und unter dem starken Druck von oben und von beiden Seiten konnte eine von persönlichen Empfindungen zur Regierung unbeeinflußte Partei, die sich als selbständiger Faktor im politischen Leben gefühlt hätte, gar nicht aufkommen.

Dem Alten im Sachsenwalde soll daraus kein Vvrwurf gemacht werden. Niemand kann wider seine Natur, und er war eine Herrennatur, die sich die Kraft zutraute, alles wesentliche selbst zu machen, und darum nur gefügige nnd geschickte Werkzeuge in ihrer Umgebung gebrauchen konnte. Für die erste Zeit uach ihm aber ist es verhängnisvoll geworden, daß Fürst Bismarck die Parteien nicht zn selbständigem Handeln erzogen hat, oder daß er nicht we­nigstens selbständige und unabhängige Staatsmänner neben sich hat groß­werden lassen, die sie dazu hätten erziehen können. Daß ein Bennigsen seine Tage als Oberpräsident beschließt, während ein Miquel Minister wird, das ist zu bedauern. Und auch das ist zu bedauern, daß ein Engen Nichter sein umfassendes Wissen und seine staunenswerte Arbeitskraft in der Sisyphusarbeit des Oppositionsführers hat verbrauchen müssen.

Alles ging gut, so lange der Altmeister noch die Regie führte. Kaum aber war Fürst Bismarck vom Schauplatz abgetreten, so stellte es sich über­raschend deutlich heraus, daß keiner von den drei berufnen, Kaiser, Bundesrat und Reichstag, das Handwerk der Staatskunst so recht verstand. Allein der junge Kaiser war auf dem richtige:: Wege, als er die Sozialreform weiter zu führen versprach. Aber er wußte uoch nicht, daß ein Herrscher seine besten Gedanken nicht unumwunden aussprechen darf wie ein Privatmann, daß er vielmehr, um Mißverständnisse zn vermeiden, Schuldscheine auf die Zukunft nur in Thaten ausstellen sollte. Der Bundesrat that, was er bisher auch gethan hatte, er erledigte laufende Geschäfte. Die Parteien des Reichstags atmeten im ersten Augenblick erleichtert und etwas verwirrt auf; kaum aber waren sie zur Besinnung gekommen, so begann ein heftiges Nennen, Drängen und Stoßen nach dem Negierungstisch zu: alle Welt hatte es überaus eilig, Vertrauensperson bei der neuen Regierung zu werden. Der Kanzler Caprivi war ein wohlmeinender Mann, aber er begriff von Ansang an weder seine Stellung noch seine Aufgabe. Er hatte die löbliche Absicht, ohue Rücksicht auf eine bestimmte Partei zu regieren, aber ihm fehlte der unbeugsame Wille,