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Staatshilfe oder Selbsthilfe?
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zwungen sieht, viel härter als der Arme die gewohnten Entbehrungen. Der Schmerz und Unmut des Gebildeten, der für seine Kräfte keine entsprechende Verwendung findet, mag wohl größer sein als der des zeitweilig beschäf­tigungslosen Arbeiters.

Aber was folgt daraus? DieNot" des Mittelstandes ist in Wahrheit die Unmöglichkeit der Befriedigung höherer Lcbensansprüche, solcher Ansprüche, die auch der bestgcstellte Arbeiter nicht erheben kann und darf, die Unmöglich­keit der Festhaltnng von Standcsbegriffen und einer Lebenshaltung, die immer nur das Vorrecht einer beschränkten Zahl sein können. Und dies Vorrecht wird um so schwerer zu behaupten, je mehr die Zahl derer znnimmt, die darnach Verlangen tragen, die es sich zu erlümpfeu und zu bewahren streben. Daraus geht denn hervor, daß die mit der Forderung derMittelstands­rettung" dem Staat gestellte Aufgabe viel weiter geht und die Kräfte des Staates viel mehr übersteigt, als die bisher von ihm verlangte soziale Fürsorge. Aber nicht allein, daß zu ihrer Erledigung die Mittel fehlen; sie steht cinch zu der soziale» Fürsorge im geradeu Gegensatz. Denn während diese Fürsorge so gedacht war, daß die bessergestellten Vcvölkernngstlasscn dem Arbeiterstande emporhelfen sollten, so wird nnn für die Bessergestellten eine Hilfe begehrt, die schließlich doch nur auf Koste» der Arbeiter geleistet werden kann.

Und selbst wenn sich diese Bedenken beseitigen ließen, wie will man denn nach unten hin die Volksschicht abgrenzen, der diese Hilfe zu teil werde» soll? Der Mittelstand ist nicht eine abgeschlossene Kaste, zu der sich die Zu­gehörigkeit durch irgend welche Merkmale bestimmen ließe. Wenn es der Arbeiter ermöglicht, wenn nicht sich selbst, so doch seine Kinder auf die Stufe des Mittelstandes empvrznbriugeu, wer will ihm das verwehren? Andrer­seits aber würde es eine Förderung jenes für unsre Zeit eigentümlichen uu- gesunden Dranges nach oben bedeuten, wenn man alle, die zum Mittelstände zu gehören beanspruchen, schützen wollte in vermeintlichen Rechten, sie dnrch Staatshilfe bewahren vor dem Hinabsinken zum Proletariat oder je nach­dem ihnen zu höherer Lebensstellung den Weg bahnen. Je mehr sich in der Neuzeit die Vorstellung, daß körperliche Arbeit und das Einnehmen einer dienenden Stellung entehrend sei, verbreitet hat, desto mehr mußte sich dadurch die wirtschaftliche Lage des einfache» Arbeiters im Verhältnis zu der des Mittelstandes besser». Die Gehalte der junge» Leute beider Geschlechter aus deu bessern Ständen sind häufig darauf berechnet, daß sie Zuschüsse vom Elternhause empfange», während das Kind des Arbeiters früh auf eignen Füßen steht. Und dabei müsse» jene oft Demütiguugen aller Art hinnehmen, während der Dienstbote meistens schon dnrch die lebhaftere Nachfrage nach seiner Arbeitskraft gegen eine rücksichtslose Behandlnng geschützt ist und oft seine durch die Uneutbehrlichkeit seiner Dienste ihm gesicherte Überlegenheit der Herrschaft fühlbar macht. Es ist znzngeben, daß es unter den heutige» Ver-