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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Volkszeitung, ein überzcuguugstreues und anständiges Blatt nenne». Das mag dem Geschmack der Post nicht entsprechen, aber ultramoutan wird man durch ein solches unbefangnes Urteil nicht.
Welche Bewandtnis aber hat es denn nun eigentlich mit den sogenannten sozialistischen Neigungen der Grenzbotcn, die wahrlich nicht engherzig sind nnd auch widerstreitenden Ansichten das Wort gönneu? Mau kcmu da lesen, daß unserm Mittelstande durchaus keine Gefahr drohe, und dann wieder, daß er dem Untergange preisgegeben sei; man liest da auch, daß unsre Fabrik- und Bergarbeiter schlimmer daran seien als die Hörigen vergangner Zeiten. Es findet sich in ihnen so mancher Mahnruf, um dem Rückgang der Volkskrnft durch ungesunde und überanstrengende Beschäftigung zu steuern, um auch deu Massen des Volkes Grund und Boden, auf dem sie ernten können, was sie gesät haben, zugänglich zu macheu. Wie ein roter Faden geht aber durch die Greuzbvteu die Liebe zu Kaiser uud Reich, die Propaganda für Erhaltung und Mehrung der Wehrkraft Deutschlands zu Wasser und zu Lande. Solche Gefühle und Bestrebungen hat man doch früher nicht sozialdemokratisch genannt. Geändert und gebessert haben doch auch alle die, denen es jetzt genug gethan ist, die nicht mehr mitmachen wollen, und deueu das Reich schon zu weit gegangen ist. Wir wissen sehr wohl, daß sehr einflußreiche und bedeutende Männer ganz im Gegensatz zu den Greuzbvteu die Ansicht vertreten, daß in Deutschland das zulässige Ziel bereits überschritte» sei. Es ist zwar nicht hübsch, aber von einem solchen Parteistandpuukte aus kann es Politisch recht klug erscheinen, die Grenzbotcn sozialdemokratisch zu nennen. Die, die man meint, darf man nicht angreifen; aber man kann sie verwirren und einschüchtern, wenn mau ihre angreifbaren Bundesgenossen init dem verhaßten Namen sozialdemokratisch in die Acht erklärt. Ein politischer Meisterzug in einer Zeit, in der man sicher sein muß, wegeu der Haltung der Grenzboten die ganze Interessengruppe der Agrarier auf seiner Seite zu habeu. So feine politische Schachzüge sind uns im Grunde genommen am wenigsten verhaßt. Wir können es auch gleichmütig ertragen, daß Herr von Stumm uud sein Gefolge jede unbequeme Gegnerschaft mit dem Schlagwvrt sozialistisch niederzuschlagen sucht. Die Sache hat aber auch ihre Kehrseite, uud das bedeukeu die Herren nicht, Weil sie eben ihren Kampf mit bloßen Redensarten führen, die sie automatisch herunterklappern, uud bei denen sie nichts fühlen. Sie übersehen, daß sie Leser, die in den politischen Jrrgäugeu weniger bewandert sind und deshalb jene Redensarten ernst nehmen, dazu verführen, sich aus deu Greuzbvteu über die sozialdemokratischen Bestrebungen unterrichten zu wollen uud so in eine völlig falsche Vorstellung zu geraten. Denn wenn sie die Grenzbotcn „sozialdemokratisch" schimpfen, bringen sie nur zustande, was ihnen doch gewiß selbst unerwünscht ist: daß die Svzialdemokratie für eine aufrichtig Patrivtische Partei und jede andre, die ihr das abspricht, für heuchlerisch gehalten wird.
Weshalb wir uus hiermit an die Post wenden, während doch eine ganze Reihe andrer Blätter den albernen und uuehrlicheu Angriff auf die Grenzbvten in viel größerm Umfange aufgenommen hat? Nun, weil wir die Post sür eiu anständiges Batt halten. Ans den Angriff selbst zu antworten, der nur der wiederholte Versuch ist, eiue unbequeme Stimme zum Schweigen zu bringen, dürfen wir wohl als uuter uusrer Würde betrachten.
Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig N-rlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marqnart in Leipzia