Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Frage, ob es gcmz vom Markte auszuschließen sei, wieder offen bleibt. Aber wie die Spekulation bei stetig sinkendem Preise ans die Rechnung kommen kann, wissen wir immer noch nicht, und auch dos andre nicht, wie es zngeht, daß diese dem Wcltvorrat «icht entsprechende Anhäufung von Getreide in Berlin nicht an andern Orten Mangel erzeugt nnd einen Preisaufschlag bewirkt, der auf Berlin zurückwirken müßte. Wir müssen deshalb die Bitte an börsenverständige Freunde unsrer Zeitschrift, uns endlich einmal die Sache klar zu macheu, wiederhole».
Das allerwunderbarste an dieser wunderbaren Sache ist aber folgendes: Bis- marck, der Großgrundbesitzer nnd cmsgesprochne Agrarier, ist von der Zeit ab, wo die Klagen über die Not der Landwirtschaft und die Anklagen gegen die Börse begannen, seit Ende der siebziger Jahre, bis 1890 Reichskanzler und die letzten Jahre seiner Amtsführung zugleich Haudelsminister gewesen. Dann kam zwar Caprivi, dem man nachsagt, daß er vou der Landwirtschast und vom Handel nichts verstehe, aber der war doch nicht zugleich Haudelsminister, nnd wahrend seiner Amtsführung, sowie vor- nnd nachher, hat Preußen stets Großgrundbesitzer zu Ministern für Landwirtschaft, außerdem den agrarisch gesinnten Miqnel zum Finanz- miuister gehabt; seit reichlich einem Jahre haben wir wieder einen Großgrundbesitzer znm Reichskanzler, und mich der Minister des Jnueru uud der Kriegsminister gehören stets dem Grnndadcl an. Und wie in der Regierung, so haben wir im Reichstage seit 1878 eiue agrarische Mehrheit; das Zentrum ist größtenteils agrarisch gesinnt und in seiner Gesamtheit börsenfeindlich. Nuu fragen wir: Wenn die Börse wirklich eine künstliche, dem Getreidevorrat der Erde nicht entsprechende Wvhlfeilheit des Getreides erzengt, wie ist es da nnter den oben beschriebnen Machtvcrhttltnissen der Vertreter der Landwirtschaft zn erklären, daß die Regierung noch niemals das gcmeinschädliche Treiben der Börse durch eiue genaue Beschreibung ihrer Manipulationen entlarvt und Gesetze dagegen vorgeschlagen hat, die sofort angenommen worden sein würden? Ist vielleicht auch ihr, der Regierung, Bismarck nnd Miqnel eingeschlossen, die Sache noch nicht klar? Dann dürfen wir, die wir dem Treiben fernstehen, uns wahrlich nicht schämen, zu bekennen, daß wir die agrarischen Beweisführungen nicht verstehen.
Nochmals . . . ohlgeboren. Nach unsrer Erfahrung nimmt die Titel- und Schnörkclsucht iu Deutschland eher zu als ab, und das Mahnwort der Grcnzboten wird wohl vielseitigen Beifall gefuudcu haben. Der Unsinn mit dem Wohlgcboren, Hochwvhlgcborcn nnd Hochgeboren wird aber in manchen Provinzen Preußens sehr viel stärker betrieben, als in andern. Westlich von der Elbe und in Ost- nnd West- prcnßen läßt mau im gewöhnlichen Briesverkehr meist diese lächerlichen Zusätze weg. Dagegen ist Brandenburg, Pommern und namentlich Schlesien so recht die Domäne für Hoch- nnd Wohlgeboren. In Schlesien scheinen sich noch alte österreichische Re- miniszenzen fortzuschleppen. Auch der „Reserveleutuant" hat sicher sehr viel zu dem erneuten Anschwellen der „Hochwvhlgebornen" beigetragen. Solange er den bunten Rock anhat, schreibt selbst sein Kriegsherr mit diesem Zusatz an ihn, und im „Zivilverhältnis" mag er dann das schmückende Beiwort nicht missen; ja der Rittergutsbesitzer uud Leutnant d. R. kämpft oft in unsrer sogenannten aufgeklärten Zeit eiuen harten Kampf mit seinem feudalen Landrat, der ihm seiner Meinung nach zu Unrecht die Hochwohlgeborenheit aberkennt. Der Kampf fällt regelmäßig zu Uugunsteu der Leutuauts im Nebenamt aus, aber junge Heißsporne lassen sich dadurch nicht abschrecken. Daß aber der „Bund der Landwirte," der doch eigentlich ausgleichend zwischen dem Edelmann und dem Bauer wirken will, ein