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Was verlangen wir von einem bürgerlichen Gesetzbuch? : ein Wort an den Reichstag
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stimmungen durch den Reichstag sei unmöglich. Wir glauben nicht an diese Unmöglichkeit. Die Erfahrung, die wir mit ähnlichen großen Gesetzentwürfe», wie dem Strafgesetzbuche, den Prozeßgesetze», gemacht haben, widerspricht dem. Wenn auch nicht in dem versammelten Reichstage die Durchberatung im ein­zelnen zweckmäßig ist, iu einer vom Reichstage zn eruenuenden und wenn nötig über die Sitzungsdaner hinans zu bestellenden Kommission kann sie jedenfalls in gleicher Weise vorgenommen werden, wie in der Redaktions­kommission des zweiten Entwurfs oder im Bundesratsausschusse und im Bundesrate selbst. Ebenso wie dort fortwährend Abänderungen des ersten Entwurfs vorgenommen worden sind, so ist auch die Abänderung vorgeschlagner Bestimmungen durch den Reichstag möglich, ohne daß damit schon das ganze Gesetzeswerk in Frage gestellt werden müßte. Es giebt unzählige änßerst wichtige Fragen, die sehr verschieden beantwortet werden können, und deren Beantwortung in dem einen oder andern Sinne keineswegs auch andre Teile des Gesetzes in Mitleidenschaft zu ziehen braucht. Und geschieht es, so ist es eben die Aufgabe der Gesetzgebungstechnik, die sämtlichen Bestimmungen mit­einander wieder in Einklang zu bringen. Die Rechtsordnung ist aber keine Rechenaufgabe, deren Lösuug konstruktivnsmüßig und auf rein logischem Wege nur von Nechtsgelehrten gefunden werden könnte. Sie ist der Jubegriff von Normen, die das praktische Leben regeln wollen, deren Wirkung auf das Leben daher ins Auge gefaßt werden muß. Diese Erkenntnis ist aber nicht allein den Juristen vorbehalten. So hat z. B. die Regelung der Verjährung, des Zurückhaltungsrechts, der Ehcscheidnngsgründe, der Erbfolge lediglich nach Zweckmäßigkeitsrücksichten zu geschehen. Die leitenden Grundsätze hierfür in Gemeinschaft mit der Regierung zu bestimme» ist recht eigentlich die Aufgabe des Reichstags, und es wäre zu bedauern, wenn er das in der Meinung, daß es sich nur um technisch-juristische Fragen handle, unerwvgen ließe.

Die verschiedenartige Regelung der Ehescheidungsgründe im ersten und ini zweiten Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs bietet hierfür ein Beispiel. Dort war die unheilbare Geisteskrankheit des einen Ehegatten nicht znm Schei- duugsgrund erhoben worden, hier ist sie als Scheidungsgrnnd anerkannt. Ob das eine oder das andre für das Volkswohl zweckmäßig und nützlich sei, das ist doch keine juristische Frage. Wer wird aber die hohe Bedeutung verkennen, die ihre Beantwortnng für das Volksleben hat? Darf sich deshalb der Reichstag ihrer Beantwortung entziehen, und wäre es richtig, die von den Regierungen vvrgeschlagne Regelung des ersten Entwurfs ebenso prüfnngslos hinzunehmen, wie die entgegengesetzte im zweiten Entwurf?

Wollte sich aber auch der Reichstag bescheiden und ans Abänderungs­vorschläge verzichten, in dem Streben, das baldige Zustandekommen des Gesetzes, wonach sich das gesamte Volk sehnt, nicht zu gefährde», so würde er erst recht znr gewissenhaften Prüfung und eingehende» Erwägniig vor