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Das Alte Testament und der Dichter des Heliand
Wird haben entgehen lassen, daß sich ihm ferner die Geschichte vom Turmbau zu Babel des lebendigen Bildes wegen, das daraus mit leichter Mühe zu gestalten war, als ein lockender Gipfelpunkt der Genesiserzählungen empfahl, und daß endlich auch die Hauptzüge der in den Kapiteln 12 bis 17 erzählten Geschichte Abrahams, namentlich soweit sie Metall zur Ausprägung lehrhafter Weisungen und Vorschriften bot, dargestellt waren.
Bei Kapitel 18 der Genesis beginnt unser drittes Bruchstück, in dem man deutlich zwei Abschnitte unterscheiden kann. Der erste behandelt die Verkündigung des über Sodom und Gomorrha verhängten Strafgerichts an Abraham; der zweite Lots Errettung nnd den Untergang der sündhaften Städte. Ungemein rasch, lebendig und anschaulich wird die Begegnung des Herrn und seiner Engel mit dem gerade bei einem Opfer beschäftigten Abraham dargestellt. Die Fußwaschung, die der Germane an nichts ähnliches seiner heimischen Bräuche anknüpfen konnte, die ihn also fremd anmuten und ihm unverständlich bleiben mußte, samt der Bewirtung des Herrn, die den hohen Himmelskönig doch gar zu menschlich bedürftig erscheinen ließ, wird verschwiegen, wie ähnlich im Helicmd die verschiednen Sabbathentweihungen und Waschungsstreitigkeiten getilgt sind. Aber damit nicht genug: auch die ganze Episode der wiederholten Verheißung Jsaaks mit dem ungläubigen Lachen der Sarah, der Gott noch im neunzigsten Lebensjahre einen Sohn verspricht, bleibt unerwähnt. Dies mußte dem Dichter, der im Heliand den sonderbaren Aufzug des Johannes in der Wüste, sowie den vom Täufer geäußerten Zweifel an Jesu Messiasschaft mit mißbilligendem Stillschweigen übergeht, im höchsten Grade anstößig und widerwärtig erscheinen, zumal da die Vulgata in der Wahl ihrer Ausdrücke hier nicht gerade zart verfährt. Überdies mochte dem Sänger die Furcht kommen, daß seine Hörer, denen Lachen und Ehrfurcht schwerlich verträgliche Dinge waren, Sarahs EinWurf mißverständen — sei es auch nur als Zweifel an der Zuverlässigkeit göttlicher Voraussagung — und sich einen ganz falschen Vers darauf machten. Einer ähnlichen Erwägung zuliebe hat der deutsche Bearbeiter ferner die Fürbitte umgestaltet, die Abraham für die Sodomiter einlegt. Im Alten Testament bittet Abraham den Herrn, sie zu verschonen, wenn er fünfzig, dann, wenn er fünfnndvierzig, dann, wenn er vierzig, dann, wenn er dreißig, dann, wenn er zwanzig, und endlich, wenn er zehn Gerechte dariu fände. Dieses Feilschen um die Errettung der Stadt — so darf man das berechnende, bohrende nnd lauernde „Herunterhandeln" des verschlagnen Semiten, der seinen Gott sozusagen wie einen gutmütigen Geschäftsfreund behandelt, wohl bezeichnen — ist in unsrer Dichtung von der fünffachen Wiederholung des barmherzigen Kunstgriffs, die die Genesis hat, ans eine zweifache herabgesetzt (von fünfzig über dreißig sofort auf zehn). Man darf hier wohl getrost behaupten, ohne sich einer dentschtümelnden Schönfärberei schuldig zu machen, daß dem geraden, allen Winkelzügeu abholden