Das Alte Testament und der Dichter des Helicmd
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Ruchlosigkeit und Verwerflichkeit iu den Augen seiner Stammcsgenossen nur noch augenscheinlicher und eindringlicher mcichen wollte. Zwei bemerkenswerte Abweichungen hat sich der Dichter ferner in der Strafredc Gottes gestattet. Die Bibel läßt den Herrn in seinem Fluche sagen: „Wenn du die Erde bebaue» wirst, wird sie dir ihre Früchte verweigern." Das mußte dem Germane» mit seine»! gerade», sittlichen Rechtsgefiihl, das für offnes Verbrechen offne Strafe wollte, unverständlich oder ungerecht erscheinen. Denn so ist es iu der germanischen Welt: wenn die Gottheit Rache nimmt, so thut sie es unmittelbar uud trifft, ohne alles „Wenn," mit dein raschen Tode. Der Mörder ist der Gottheit verfallen, er ist der vargr l vvum, wie es altnordisch heißt, der ..Wolf im Heiligtum."'") Die Auffassung aber einer so über die Maßen indirekten Bestrafung: weil du getötet hast, so soll hinfort deiner Hände Arbeit vergebens sein, ist so nngermanisch wie möglich. Deshalb ließ sie der sächsische Säuger auch ohne weiteres falle». Nicht besser ist es den: letzten Anssprnche Gottes ergangen, womit er dem Mörder eine Art Trost zuspricht: „Wer Knin tötet, es sei, wer es wolle, der soll siebenfältig bestraft werden." Auch mit diesem Gedanken hätte der Germcme nichts anzufangen gewußt. Nach dieser Auffassung war die Gemeinschaft Kains mit seine» Sippgenossen zerrisse»; denn war er infolge des Mords von der Volksgenossenschaft friedlos geinacht, so war er damit zugleich von seiner Sippe geächtet. Es mußte nun von feiten der Sippe entweder Blutrache genommen oder mit den: Mörder eine Sühnevertrag geschlvssen werden. Nur wen» ein solcher stattgefunden hatte, wäre eine Strafe für den notwendig gewesen, der den Kam etwa töten würde. Was aber hätte eine siebenfache Bestrafung von Kains Mörder für die germanische Auffassung bedeutet? Sie hätte sich doch höchstens auf eine siebenfache Buße, auf siebenfaches Wergeld beziehen können; solche Erhöhungen des geläufigen Wergeldsatzes kommen aber lediglich in Anbetracht gewisser Standes- oder Berufsverhältnisse vor, niemals aber in Rücksicht darauf, ob der Getötete mehr oder minder den Tod verdient hatte. Aber nicht bloß uugermanisch. auch spezifisch jüdisch mußte diese Stelle unser». Dichter erscheinen, schon wegen der dem Judentum geheiligten Siebenzahl, ans deren Erklärung und mystische Dentnng die Kommentare lange Auseinandersetzungen verwenden.
Nach der Entfernung Kains wird zunächst sein Geschlechtsregister, als Einschiebsel von rein jüdisch-historische»! Wert, überschlagen und dadurch sofort der Übergang zu den nun doppelt betrübten Eltern gewonnen. Ein neuer Sohn wird ihnen geschenkt. Aber während sich die alttestamentliche Genesis begnügt, diesen Sprößling Seth einfach als „Ersatz" für den erschlagnen Abel
*) Wolf heißt der Geächtete, weil er friedlos gehetzt wird wie das Raubtier des Waldes; auch in dem Namen Wolfdietrich, mn den sich im deutschen Altertum ein ganzer Sagenkreis ichlang, bedeutet der erste Bestandteil „der Verbannte, der Geächtete."
Grenzbote» IV 1895 . 24