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Das medizinische Studium
Der einzig richtige Weg aber dürfte der sein, am Anfang anzufangen, d. h. einmal zuzusehen, wer Medizin studirt, und wie sie stndirt wird, und ob nicht hierbei manches faul ist. Das scheint man auch in weitern Kreisen eingesehen zu haben; vor kurzem liefen Gerüchte durch die Presse von einschneidenden Veränderungen, die im medizinischen Studium bevorstehen sollen.
Wer studirt heute Medizin? Ein großer Haufe von jungen Leuten, die nichts besseres anzufangen gewußt haben, nachdem gegen alle andern Studien Bedenken erhoben worden waren: zur Theologie war keine Neigung, das Lehrfach war zu überfüllt, Jurisprudenz zu langwierig. Aber studirt werden mußte, denn so erforderte es der moderne Strebensdünkel, wonach der Sohn immer etwas „Höheres" werden muß als der Vater; und so blieb denn nur die Medizin übrig; denn die ist zugleich ein „Brotstndium" — das Wort erregt schon Grauen—, und verdienen soll der Junge etwas, sobald er fertig ist. Also: es wird Medizin studirt, und zwar mit allem Eifer, denn das medizinische Studium fesselt jeden mit dem Reiz des täglich Neuen und Interessanten. Die Examina werden gemacht, mit „genügend" eben bestanden, und der Mensch- heitsbcglücker ist fertig. So stehen sie dann zu Hunderten da, und nun — beginnen die Enttäuschungen. Nach zwei Jahren aber — besondre Glücksfälle ausgenommen — ist der junge Arzt so unzufrieden mit seiner ganzen Laufbahn, so abhold den unvermeidlichen Mühen seines schweren Berufs, daß er oft die Stunde verwünscht, wo er den Entschluß gefaßt hat, Mediziner zu werden.
Ein Teil der Schuld an diesen Zuständen liegt unzweifelhaft an unsrer heutigen höhern Schulbildung. Wenn — dank unserm Einjährigfreiwilligenwesen — die Arbeiten immer mehr herabgesetzt, die Versetzungen immer milder, die Prüfungen immer leichter gemacht werden, so ermutigt das natürlich immer mehr Unbegabte, die Schule zu besuchen, und zwar bis zu Ende, „damit ihnen die Welt offen stehe." Ich kaun hier auf diese traurigen Verhältnisse nicht näher eingehen, aber ich glaube, daß sie dazu beigetragen haben, den Bildnngs- dünkel zu steigern und das geistige Proletariat zu vermehren.
Dann aber können die Eltern nicht dringend genug davor gewarnt werden, bei der Berufswahl der Söhne diesen allzu freie Hand zu lassen. Sehr oft weiß ein neunzehnjähriger junger Mensch gar nicht, was er werden soll. Sorgfältigste Beobachtung der Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen des Sohnes ist eine der Hauptpflichteu unsrer Erziehung; sie ist freilich nur möglich bei dem — heute so seltnen — innigen Znsammenleben der Kinder mit den Eltern.
Vor allem der ärztliche Beruf erfordert bestimmte, aber bei sorgfältiger Erziehung deutlich zu erkennende Anlagen. Nicht darauf kommt es an, daß der junge Mann sich getraut, eiue Leiche anzufassen, oder daß er Blut fließen sehen kann: gerade das findet sich später bei einiger Willenskraft auch bei