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Der Apoll vom Belvedere
Der letzte, der sich meines Wissens (abgesehen von Overbeck) über den vatikanischen Apollo ausgesprochen hat/") ist P. Weizsäcker in den Süddeutschen Blättern sür höhere Unterrichtsanstalten 1894, S. 6 sf. Von dem Gegensatz der dargestellten Bewegung zu der ruhig herabhängenden Chlamys ausgehend, nimmt er an, der Gott habe sich soeben, durch irgend ein Ereignis, das seinen Zorn erregt, aufgebracht, rasch Und heftig von seinem Sitz erhoben, um nun in mächtigen Schritten dem Ziele zuzueilen, das sein Einschreiten erfordert; das Ereignis aber, um das es sich handle, sei vielleicht der Kampf der La- pithen mit den Kentaureu, obschon Weizsäcker auch cmdre Möglichkeiten nicht ausschließen will; angeregt aber habe den Künstler zu seiner Auffassung die bekannte Stelle der Jlicis I, 48, in der Apollo geschildert ist, wie er zur Rache an Agamemuon (wegen der Chrysels) schreitet.
Nachdem wir somit dargelegt haben, auf welchem Standpunkte zur Zeit die Frage angelangt ist, dürfen wir nun wohl darnach fragen, von welchen Gesichtspunkten man heutzutage bei der Beurteilung und Deutung des vatikanischen Apollo auszugehen habe. Das sind denn im wesentlichen folgende: 1. der Gesichtsausdruck; 2. die Bewegung (Stellung der Füße, Haltung der Arme. Wendung des Rumpfes, Richtung des Blicks); 3. die Attribute.
1. Der Gesichtsausdruck. Wie ihn Winckelmmm geschildert hat, ist bekannt: „Verachtung sitzt auf seinen Lippen, und der Unmut, welchen er in sich ziehet, blähet sich auf in den Nüstern seiner Nase und tritt bis in die stolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in einer seligen Stille auf derselben schwebt, bleibet ungestört, uud sein Auge ist voll Süßigkeit." Diese Auffassung wird auch heute noch von der Mehrzahl geteilt; Heinrich Meyer freilich wollte nur göttliche Genügsamkeit, Erhebung, allenfalls Stolz erkennen, aber nicht Zorn; und wenn sich auch Furtwcingler bei seiner Deutung nicht über den Gesichtsausdruck ausspricht, so ist doch klar, daß er bei einem unheilabwehrenden Apollo, der nicht nur das Böse besiegt, sondern auch das Kranke heilt, keinen Zorn in den Mienen annehmen kann. Und doch — es ist kein allgemeiner, unbestimmter Ausdruck in diesen schönen Zügen, der es erlaubt, den Gott nur als eine Verkörperung gewisser Seiten seines Wesens zn fassen; wenn nicht gerade Zorn, so doch Erregung kann man nicht umhin auf diesen: Gesicht zu lesen, eiueu bestimmten Affekt, der weit über einen bloß typischen Ausdruck hinausgeht. Und wer das zugiebt, der muß auch, sollte ich meinen, zugeben, daß sich der Künstler den Gott in einer ganz bestimmten Situation gedacht hat, die jenen Gesichtsausdruck erklärt, d. h. der Gott muß einen Gegner haben oder
*) Während des Druckes dieser Zeilen erhalte ich die Nachricht, daß soeben ein neues Buch über den belvcderischen Apoll von Hermann Frecricks erschienen sei. Zugegangen ist es mir bisher noch nicht; ich mnß daher daraus verzichten, an dieser Stelle darauf Rücksicht zu nehmen.