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Soziale und Naturreligion
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Soziale und Naturreligion

Dvgmenbildung dem schwerfälligen Körper der Gesamtkirche entzogen und dem Papst übertragen, wenn der Grundsatz aufgestellt wird, daß die Geschichte durchs Dogma überwunden werden könne, dann liege es in der Hand des Papstes, Dogmen, die einein frühern Standpunkt der Wissenschaft entsprechen, preiszugeben und durch neue, unsrer gegenwärtigen Erkenntnisstufe entsprechen­dere zu ersetzen. Bei der kirchlichen Gährung, die den Protestantismus mehr als den Katholizismus ergriffen hat, hemmen zwei praktische Mcksichten: das Verhältnis der Religion zur Moral und ihr Nutzen für Staat und Gesellschaft, die Gedankenbewegung. In ersterer Beziehung leugnet Lütgencm nicht, daß die Religion, die selbstverständlich etwas andres sei als die Sittlichkeit, dieser in vielen Fällen wertvolle Stützen leihe, findet aber den heute so beliebten Binde­strich :religiös-sittlich" sehr verderblich. Denn diese unlösliche Verbindung beider Begriffe, an die man das Volk gewöhne, habe einmal znr Folge, daß Leute, die mit der Religion brecheil, damit auch allen sittlichen Halt verlieren und sich einbilden, es sei ihnen nun alles erlaubt, was sie gelüstet, und zweitens erscheine dann alles, was die Religion gebietet oder erlaubt, sofort als zu­gleich sittlich geboteu und erlaubt, auch weun die Religion in Fanatismus ausartet oder sich sonstwie sittlich verirrt, z. B. den Herren eine besondre Moral gestattet. Ganz verfehlt sei die Art und Weise, wie die höhern Klassen die niedern sittlich zu heben versuchten. Den richtigen Weg habe die Sozialdemo­kratie beschritten.Einen immensen Fortschritt bedeutet es, wenn, wie in der Gegenwart, eine unterdrückte Klasse die individuelle Beugung der dem be­stehenden Gesellschaftssystem zugehörigen Nechtsvrduung und Moral seitens«?) ihrer Angehörigen verwirft und im organisirten Ringen der .unterdrückten Klasse gegen die herrschende einer bessern Moral zur gesellschaftlichen An­erkennung verhelfen will. Das erweist sich als möglich nur, wenn die öko­nomischen Voraussetzungen dafür vorliegen; die Moral der künftigen Gesell­schaft wird vorgebildet und vorbereitet durch eine Minderheit unsers heutigen Proletariats. Andrerseits erzeugt der Konflikt zwischen dem Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts und der herrschenden Gesellschaftsordnung öko­nomisch ausgedrückt: der Konflikt der Prodnktionstechnik und der Prodnktions- kräfte mit der Prvduktionsvrdnung auf feiten der herrschenden Klasse eine Abilahme der moralischen Tüchtigkeit und eine steigende Unfähigkeit, die gesell­schaftliche Moral zu bestimmen. Sie stellt Pflichten auf, die nicht erfüllt werden könneil, und vermag keine Moral zu entwickeln, die innerhalb der von ihr verteidigten Gesellschaftsordnung möglich, lebensfähig wäre. Unser Gesetz bestraft den Arbeitslosen für jeden aktiven sSelbst-j Erhaltungsversuch (Vetteln, Stehlen), den er bei der Unmöglichkeit sittlichen Verhaltens (nämlich des Ar- beitens und Sicherhaltens vom Erlös der verkauften Arbeitskraft) unternimmt. Als ob da, wo das allein Sittliche zu thun einem objektiv unmöglich ist, von einer subjektiven Verschuldung die Rede sein könnte! Es ist ein häufig wieder-