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Neue Ziele, neue Wege : 1. Die Grundlagen unsers Staates
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10 Neue Ziele, neue Mege

Aber es giebt für diese Opposition noch einen höhern politischen Gesichts­punkt, der, wie gesagt, auch von manchen Protestanten, und nicht den schlech­testen, geteilt wird: den großdeutschen. Der Fehler der Grvßdeutschen hat seinerzeit darin bestanden, das; sie der für den Augenblick allein möglichen Lösung der deutschen Frage widerstrebten. Aber die Kleindeutschen begehen einen noch größern Fehler, wenn sie diese vorläufige Lösung für endgiltig an­sehen. Ein deutsches Reich, dem vou dem frühern Deutschland noch beinahe S000 Quadratmeileu und 20 Millionen Einwohner fehlen, ist noch nicht das deutsche Reich, und der Deutsche von heute hat das Lied des alten Arndt: Sein Vaterland muß größer sein" einstweilen weiter zu singen. In mili­tärischer Beziehung ist das neue Reich nur eine neue Auflage des alten Preußens: ein Staat mit gauz unmöglichen Grenzen uud in einer so Übeln Lage, daß seine Sicherheit nicht auf der Wucht seiner Volksmassen und der Abrundung seines Gebietes beruht, sondern auf erschöpfenden Rüstungen, künstlichen Allianzen und jenem lousvurs on vecletw, das im Volke keine behagliche Stimmung aufkommen läßt. Endlich bringt es diese militärische Lage auch mit sich, daß sich die Deutschen den preußischen Eigentümlichkeiten mehr anbequemen müssen, als ihnen lieb und als ihnen für ihr Vvlkstum heilsam ist. Diese sehr ach­tungswerten Eigentümlichkeiten haben dem deutschen Volke in der Zeit von 1813 bis 1870 große Dienste geleistet, aber eben dasselbe, wodurch sie die Zusammenfassung der Masseu zu Kraftwirkungen nach außen befördern, hindert die innere Assimilation, und vor allem: sie sind nicht eigentlich deutsch. Preußen kann und darf daher so wenig Deutschland werden, als ehedem Mazedonien Hellas werden konnte; wohl aber ist mit dieser Vergleichung der weltgeschicht­liche Beruf Preußens ausgesprochen.

Und auch mit diesem berechtigten Partiknlarismus sind die Quellen der Unzufriedenheit noch nicht erschöpft. Prenßen hat drittehalb Millionen pol­nischer Unterthanen. Der gemeine Mann in Posen und Westpreußen weiß die Wohlthaten einer geordneten verständigen Verwaltung, die ihm Prenßen erwiesen hat, wohl zu schätzen, und bei ruhigem und geduldigem Abwarten würde die au Zahl und Kultur schwächere Nationalität von der stärkern all­mählich und unmerklich absorbirt worden sein, wie das im Mittelalter in den ehemals slawischen, jetzt deutschen Landesteilen überall geschehen ist. Eines schönen Tages aber hat der preußischen Regierung, wahrscheinlich weil der Kulturkampf und das Sozialistengesetz noch nicht genug Haß gegen Preußen erregt hatten, eine stürmische Germanisiruug nach dem Muster Josephs II. be­liebt, und der Erfolg ist natürlich derselbe gewesen;") der großpvlnische Ge-

") Ein konservativer Abgeordneter begründete damals seine Zustimmung zu den Regie­rungsvorlagen mit einem halb biblischen Spruche der etwa lautete:Herr, deine Wege sind dunkel, aber wir folgen dir blindlings, denn wir vertrauen dir." Dunkel war die Sache allerdings, aber doch nicht so dunkel, daß man nicht verschiedne Znsammenhänge gespürt hätte.