Beitrag 
Geduld : eine Hundstagserinnerung an eine Winterreise
Seite
465
Einzelbild herunterladen
 

Geduld

465

Also reden wir nicht von Schnellzügen, schon um nicht abenteuerliche Vorstellungen bei unsern Freunden, Mitbürger» und Laudsleuten zu erregen. Für Personenzüge beträgt die Eisenbahnfahrgeschwindigkeit ich muß das Wort noch einmal gebrauchen, schon weil es ein so herrliches deutsches Wort ist, dem gegenüber das griechische Wort Eilikrineia das reine Waisenkmd ist, und doch' hat das Jung-Stilling noch in seinem achtnndzwanzigsten Lebens­jahre durch seinen Wohlklang und seinen Liebreiz angetrieben, sich hinzusetzen und Griechisch zu lernen; und er hats auch richtig fertig gebracht. Also die Eisenbahnfahrgeschwindigkeit für Personenzüge betrügt in der Stnnde gerade sechzig Kilometer, mithin genau die Entfernung, um die es sich hier handelt. Steigungen von uugewöhnlicher Steilheit haben wir hierzulande nicht zu befürchten; demnach können wir in etwa einer Stunde hinkommen. Wir wollen aber zuvorkommend gegen die Eisenbahn sein und zwei Stunden rechnen, also das doppelte. Da wir min um sieben Uhr in Norden seiu sollen, so scheint es, daß wir vollauf Zeit haben müssen, wenn wir den Nachmittagszug wählen, der drei Uhr dreißig Minuten in Wilhelmshaven abfährt. Aber das ist wieder nur Schein; denn ein Blick ins Kursbuch belehrt uns, daß wir mit dem Nach- mitwgsznge erst sieben Uhr fünfnnddreißig Minuten ankommen, für unsern Zweck also eine gute halbe Stunde zu spät. Doch das möchte noch hingehn, wenn man nur auch wirklich iu Norden wäre, wenn es heißt: Norden! Aber weit gefehlt: man ist dann' einsam, allein auf weiter Flur. Der Bahnhof liegt nämlich eine Viertelstunde von der Stadt entfernt. Warnm? ist nicht einzusehn.

Es scheint ein Erb- und Familiensehlcr der Bahnhöfe Deutschlands zu sein, daß sie sast alle eine Viertelstunde von der dazugehörigen Stadt entfernt liegen. Was die großen Ströme anlangt, so meinte jener Dorfschulmeister in der Geographiestunde, es sei sehr weise eingerichtet, daß sie immer dicht an den großen Städten vorbcifließeu. Die großen und auch die kleiueu Bahnhöfe aber sind, wie es scheint, zu spät gekommen, als jene Weisheit verteilt wurde. Nun sitzen sie zwar nicht, wie der Dichter, in den Wolken, aber wie der Kiebitz und wie der bekannte einsame ostfriesische Deichhammel ans freiein Felde.

Ja warum? Ob es wohl mit der liebenden Fürsorge der Bahnverwal- tung für das geehrte Publikum zusammenhängt? Ob sie den Reisenden wohl Veranlassung zu gesunder Bewegung im Freien verschaffen will? Welch eine herrliche Gelegenheit, sich in frischer Lnft im Dauerlauf zu üben, wenn der Weg zum Bahnhofe so weit ist! Du meinst, die biete sich anch anderweit? Gewiß, aber wer nntzt sie da? Wer ist so gewissenhaft? so tugeudsam? Herr­lich sang mit Bezug hierauf einst der königliche Säuger an der Jsar:

Schön ists, Wenns schon ist, im Sommer spazieren zu nehn, und man thuts auch; Aber im Winter ists kalt; teils kommt man so nicht dazu.

Und eben weil man so nicht dazn kommt, darum haben offenbar die weisen Eisenbahnväter die Bahnhöfe so weit von den Städten entfernt angelegt. Die Bahn selbst verliert ja nichts dabei; wer reisen will, reist doch, die Leute "Nissen ihr kommen. Und wenn der Berg nicht zu Muhammed kommt, so muß sich ^,en Mnhammed entschließen, zmn Berge zu gehn. Dann ist er wenigstens hie uud da einmal genötigt, seinen Spaziergang zu machen. Er würde sonst am Ende doch nur beim Frühschoppen sitzen, was Muhammed bekanntlich streng verboten und auch Exzellenz Windthorst sehr mißbilligt hat. Grenzboten III ,892 59