Beitrag 
Ohne Ideale
Seite
8
Einzelbild herunterladen
 

Ohne Ide<iK>

d. h. atheistisch geworden. Darlins fließt einerseits eine bedenkliche Abschwächnng des Gefühls der sittlichen Verantwortlichkeit, da dies im vollen Sinne unr der haben kann, der an eine sittliche Wcltordnnng glnnbt, andrerseits eine ungesunde Überschätzung des irdischen Daseins, das ja für den Materialisten und Atheisten gleichbedeutend ist mit dein Dasein überhaupt. Ans jener er­giebt sich die schreckliche Zunahme der Selbstmorde, da man zn feige ist, das Unglück zu ertragen oder eine Schuld ehrlich zu sühnen, aus beide» die weich­liche Humanitätsduselei, die unsre Strafgesetzgebuug und noch mehr unsre Strafrechtspflege ergriffen hat. Hatte jene in der für Deutschland zum Glück wieder rückgängig gemachten Abschaffung der Todesstrafe ihren Höhepunkt er­reicht, so behandelt diese den Verbrecher nur zu oft als nnglückliches Opfer derVerhältnisse," oder wohl gar als einen Helden, oder am liebsten als einen geistig gestörten Menschen, den man allenfalls ins Irrenhaus, aber nicht ins Zuchthaus sperren dürse, nnd bekämpft die wachsende Roheit mit kurzen Freiheitsstrafen, die zuweilen geradezu als Prämie für das Vergehen erscheint. Von der gedankenlosen Genußsucht vielerGebildeten" wollen wir gar nicht reden, deun diese ist Wohl uicht schlimmer, als sie zu andern Zeiten gewesen ist. Mögen nun die schlimmen Folgen des religiösen Liberalismus bei den Ge­bildeten äußerlich noch weniger hervortreten, bei den städtischen Arbcitermasseu hat er alle Grundlagen der Religion und der Sittlichkeit zerstört, sie zur Sozialdemvkratie getrieben, sie zu Todfeinden der Ordnung, die sie umgiebt, zu zivilisirten Barbaren gemacht. Wollten wir dieser Richtung weiter folgen, so würden wir mit sehenden Angen in den Abgruud rennen. Auch das re­ligiös-sittliche Ideal des Liberalismus, womit man ja uicht die Duldsamkeit der Bekenntnisse unter einander verwechseln möge, ist tot.

Und damit ist das Urteil über den ganzen Liberalismus als politisches, wirtschaftliches und religiöses Prinzip gesprochen. Er hat seiner Zeit geleistet, was er leisten sollte und leisten konnte, aber heute sind seine Ideale, weil sie entweder im Laufe der Entwicklung verwirklicht oder in ihrer Vcrderblichkeit erwiesen worden sind, keine Ideale mehr, und eine Partei, die keine Ideale mehr hat, ist selber tot, sie erliegt wie jede geschichtliche Erscheinung dem Ge­setze des historischen Undanks. Die üppigsten Redcergiisse der Parteifeste können darüber eben so wenig täuschen wie etwaige künftige Wahlsiege der Linksliberalen. Jene eröffnen, trotz der üblichen Selbstbespiegelung, kaum noch einen Ausblick in die Znkunft, sondern nur noch Rückblicke in eine (für die Partei) beßre Vergangenheit, und neue Wahlsiege derFreisinnigen" würden nur beweisen, daß die Zahl gedankenloser Gewohnheitsmenschen, blinder Egoisten und unbelehrbarer Prinzipienreiter im lieben Deutschland noch groß ist.

Aber wenn die alten Ideale des Liberalismus für die Gegenwart nichts mehr bedeuten, wird mm etwa das gebildete und besitzende Bürgertum, das sein Träger gewesen ist, ans der Zahl der politischen Mächte ausscheiden?