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Goethes Straßburger lyrische Gedichte
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Goethes Stvaßburger lynscho Gedichte I', >

Zur Liederdichtnng war Goethe in den traurigen anderthalb Jahren nach der Rückkehr von Leipzig nicht gekommen, außer daß er im Dezember 1768 Neujahrswünsche in dem launig flotten Tone der Zeit gemacht und zu seinen von Breitkopf mit Melodien versehenen Liedern eineZueignung," worin er seine an­gegriffne Gesundheit warnend beklagt, als Schluß geliefert hatte, beide ohne dichterischen Schwung. Möglich wäre es, daß die frommen Herrnhutischeu VerseDas wird die letzte Thrän' nicht sein" aus dem Jahre 1769 stammten, wo er dem Synodus zu Marienborn beiwohnte; aber auch dieser Aus­druck seiner nach Erfülluug mit dem Ewigen sich sehnenden sündhaften Seele würde mehr vom Hineinleben in diese Empfindung als von dichterischer Er­hebung zeugen.

Dürfen wir Goethes Bericht inWahrheit und Dichtung" trauen, so litt er, als er nach Straßbnrg kam, an großer Reizbarkeit der Nerven, von der er sich allmählich durch verschiedue Gewaltkuren herstellte. Von dichterischen Versuchen (denn das französische Gedicht ans eine Pvlizeivervrdnuug wegen der Anwesenheit der französischen Dauphine ist bloß zur Ausschmückung von Wahrheit und Dichtung" erfunden) findet sich die erste Spur auf der Reise nach Saarbrücken, die er nenn Wochen nach seiner Anknnft antrat, und auf der er sich so glücklich gestimmt fühlte, daß sich die lange nicht empfundne Lust zu lyri­schem Sauge wieder einstellte. Mit zwei Tischgeuosseu hatte er die Reise zu Pferde angetreten, mit dem ein Jahr jüugeru Mediziner Weyland aus Buchs­weiler und dein fünf Jahre ältern Rate des Fürsten von Nassau-Saarbrücken, Engelbach, der eben als Lizentiat der Rechte prvmovirt hatte. Weylands Halbschwester war die Gattin des fürstlichen Negiernngsrates Schöll. Von Saarbrücken schrieb Goethe einer jungen Frankfurter Dame, die seit seiner Abreise nichts mehr von ihm gehört hatte, am 27. Juni:Wenn das alles nufgeschriebeu wäre, liebe Freundin, was ich an Sie gedacht habe, da ich diesen schönen Weg hierher machte uud alle Abwechslungen eines herrlichen Svmmertags in der süßeste» Ruhe genoß, Sie würden mancherlei zu lesen haben uud manchmal empfinden und oft lachen. Heute reguets, und in meiner Einsamkeit finde ich nichts reizenderes als an Sie zn denken, an Sie, das heißt zugleich au alle, die Sie lieben, die mich lieben." Wahrscheinlich fand er sich, während Weyland bei seiner Schwester, Engelbach in seiner Wohnnng weilte, in den frühen Morgenstunden allein im Gasthofe, da die Frennde erst später zu gemeinsamem Besuche der Stadt und Umgegend zusammentrafen. In dieser Lage konnte er sich wohl gestimmt fühlen, nach lauger Pause wieder einmal ciu frisches Lied zn wagen, wenn nicht vielmehr die Reisetage, vielleicht durch ein elsässisches Volkslied oder das fröhliche Treiben des Volkes, die Liederlust in ihm angeregt hatten. Daß er in Saarbrücken wirklich ein Ge­dicht schrieb, bezeugte urkuudlich ein Blatt, das Friederikeus Schwester Sophie noch im Herbst 1835 besaß; den« es war von Goethes Hand, und am Rande stand