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daß er gegen besseres Wissen dessen Thäterschaft bestritt. Aber svll ihn das Ehrengericht verurteilen? Von einer Notwehr des Angeklagten gegenüber dem befangnen Vorsitzenden kann im Rechtssinn nicht die Rede sein, wohl aber befand er sich und mit ihm der Verteidiger in einer Art von Notstand, und es gilt für sein Verhalten, mit einer kleinen Veränderung, das Wort Jphigeniens: „Es bleibt wohl Unrecht, doch die Not entschuldigts."
Nicht bloß entschuldigt, svuderu völlig gerechtfertigt kann der Rat, die Aussage zu verweigern, in den Fällen der zweiten Art sein, wo dem Angeklagten eine That zur Last gelegt wird, die er überhaupt nicht vollbracht hat. Von einem „Leugnen" der That kann hier beim Angeklagten von vornherein keine Rede sein, denn er bestreitet sie mit vollstem Recht; ob er sich einer ausführlichen Vernehmung durch den Vorsitzenden unterwerfen soll, ist also eine Frage der Zweckmäßigkeit, die der Verteidiger mit Grund in allen den leider nicht seltnen Füllen verneinen wird, wo der Angeklagte einem Vorsitzenden gegenübersteht, der bei der Vernehmung die Rolle des Staatsanwalts übernimmt und, wie dieser, das Bestreiten der That durch den Angeklagten als „sreches Leugnen" behandelt.
Es giebt aber auch — nicht bloß in Kriminalromanen, sondern auch im wirklichen Leben — Fülle, wo eine ausführliche Verantwortung des Angeklagten für den Beweis seiner Unschuld förderlich wäre, und wo doch der Rat, die Aussage zu verweigern, pflichtgemäß ist; es sind das die Fälle, wo der Angeklagte den wirklichen Thäter kennt, wo es nur eines Wortes von ihm bedürfte, um seine Unschuld darzuthun, wo er aber dieses Wort nicht aussprechcu will, weil er entschlossen ist, den Thäter nicht zu nennen. Ein mißratner Sohn z. V. hat einen Diebstahl verübt unter Umstünden, die den Verdacht der Thäterschaft auf die Mutter lenken. Diese wird angeklagt. Sie weiß, daß ihr Sohn der Thäter ist. Wenn sie die Wahrheit sagt, ist ihre Freisprechung sicher; aber die Mutterliebe ist stürker als der Trieb der Selbst- erhciltuug, sie will lieber ihren ehrlichen Namen opfern, als die Znkunft ihres Kindes aufs Spiel setzen. Ihrem Verteidiger offenbart sie die Wahrheit, aber unter dem Siegel der streugsteu Verschwiegenheit. Der Anwalt soll die unschuldige Mutter, nicht den schuldigeu Sohn verteidigen, eine moralische Verpflichtung, die Verteidigung abzulehnen, kommt also hier nicht in Frage. Aber wie soll er die Verteidigung führen, welches Verhalten soll er der Angeklagten anraten? Die Anklage gründet sich auf einen Indizienbeweis, die Glieder der Kette greifen scheinbar eng in einander; erweisen sich die einzelnen belastenden Thatsachen als wahr, so ist die Bejahung der Schuldfrage durch das Gericht in hohem Grade wahrscheinlich. Alle einzelnen Thatsachen sind wahr, aber der Beweis steht bei einigen auf schwachen Füßen; die Versuchung für den Verteidiger ist groß, der Angeklagten zu raten, sie solle diese Thatsachen bestreiten, dann lasse sich die Kette der Beweise leicht durchbrechen, lasse sich