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Die Pflicht zu reden und das Recht zu schweigen
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Die Pflicht zu reden und das Recht zu schweigen Z77

weiterhin auch deren grundsätzliche Verkehrtheit leicht nachweisen, Sie beruht, kurz gesagt, auf einer Verkenuung des Unterschieds zwischen Recht und Mvral. Es ist verkehrt, alles, was das Sittengesetz vom Menschen verlangt, zu einer im Notfall erzwingbaren Rechtspflicht zu macheu; es ist aber nicht minder verkehrt, eine Handlung, die das Staatsgesetz nicht verbietet, deren Unterlassung zu erzwingen es sich bescheidet, darnm als rechtmäßig, als sittlich erlaubt zu bezeichnen.

Kein Angeklagter darf gezwungen werden, gegen sich selbst auszusagen: das ist ein Satz, der heutzutage in dem Strafverfahren der europäischen Kultnrstciaten wohl ausnahmslos gilt. Seine Geltung ist aber noch keine hundert Jahre alt, erst in unserm Jahrhundert ist die Folter, der eindring­lichste Zwang zur Aussage des Angeklagten gegen sich selbst, gänzlich abgeschafft worden; die Anwendung der Tortur war uur die notwendige Folge davon, daß der Gesetzgeber die sittliche Pflicht der Wahrhaftigkeit zur Rechtspflicht machte. In den umgekehrten Fehler find die Urheber der neuen Bestimmung in § 136 der Strafprozeßordnung verfallen: daraus, daß der Staat darauf verzichtet, den Angeklagten zum Reden, zur Angabe der Wahrheit, also den schuldigen Angeklagten zum Geständnis zu zwingen, folgern sie, daß jeder, auch der schuldige Augeklagte nach Naturrecht, nach dem Sittengesetz befugt sei, die ihm zur Last gelegte That zu leugnen. Diese Moral der Lasker und Genossen ist aber, so hoffen und glaube» wir, doch nicht die Moral des deutschen Volks, die Lüge ist noch heute iu Deutschland verächtlich, und das Leugnen einer begangnen That ist von der Lüge nicht dem Wesen, sondern nur dem Grade nach verschieden.'") Anch den besten Mann kann einmal Not oder Leidenschaft zu einer Missethat hinreißen; hat er sich aber hinreißen lassen, dann steht er nicht an, die That durch offnes Geständnis zu sühnen, und unterwirft sich der gesetzlichen Strafe. Nur der feige oder böse Bube groß oder klein verlegt sich aufs Leuguen. Jenen achten wir trotz seines Verbrechens, diesen verachten wir nicht wegen seiner That, sondern wegen seiner Lüge. Darum hätte es vollständig genügt, im Gesetz auszu- svrcchcn, daß gegen einen Angeklagten keinerlei Zwangsmittel angewendet werden dürfen, um ihn zum Geständnis zu bringen, und daraus hätte sich von selbst seine gesetzliche Befugnis ergeben, jede Antwort zn verweigern. Ein ehrliches gutes Deutsch zu reden haben aber unsre Gesetzgeber längst ver­lernt, vielvornehmer," als jener schlichte Satz es wäre, ist es, wenn man die Engländer ungeschickt nachäfft und dem Angeklagten eröffnet, daß er nach dem Gesetze die Wahl habe, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen.

') Leugnen hängt sprachlich und darum auch sachlich enge mit Lügen zusammen, es bedeutet nicht: in Abrede stellen, daß etwas wahr sei, sondern! das, was wahr ist, in Abrede stellen.

Grenzboten I 1892 48