Joseph Joachim der Lauerndichtcu
ihr Argwohn und ihre Voreingenommenheit gegen alles, was neu ist, sind ihm widerwärtig, und dagegen richtet sich die Tendenz seiner Geschichten.
Denn ein Tendenzdichter in der Art des Jeremias Gotthelf ist auch Joseph Joachim. Er schreibt, nur zn bessern. Er hält seinen Vnnern einen Spiegel vor, damit ihnen ihre Fehler recht sichtbar nnd erkennbar werden. Unter diesem Streben leidet sogar oft sein Humor, von dem er doch sonst goldne Proben giebt. Er wird iu seinem Eifer leicht bitter. Daß er trotz dieser mvralisirenden Neigung doch das Spiel der menschlichen Leidenschaften frei nnd unbefangeu darstellt, das ist es, was seine Bedeutnng als Dichter ausmacht. Man kann ihm kaum irgendwo nachweisen, daß er der Tendenz znliebe die Natur uud Wahrheit der Charaktere verletzt hätte. Er sieht das menschliche Leben von eiuer solchen Hohe an, daß er allen Parteien menschlich gerecht werden kann. Man hat das vollkommene Gefühl der Lebenswahrheit seiner Gestalten lind eine echt poetische Lust au ihrer kräftigen und folgerichtigen Durchführung. Diese künstlerische Seite offenbart am schönsten die Vvlksgeschichte „Die Brüder," sie tritt auch sonst zu Tage, doch nirgends so klar und warm wie hier.
In den „Brüdern" hat Joseph Joachim ein Volksbnch geschaffen, das wohl zu den besten Werken gehört, die in dieser Art vorhanden sind. Sein Horizont ist hier der weiteste, die Fülle der Figuren, Motive uud Gedanken scheint nuerschvpflich, die Kraft der Gestaltung scheint nie zu erlahme», das Gcmze, weun manchmal auch durch ein zuviel des Guten, eine übrigens echt epische Ansführlichkeit ermüdend wirkt, ist doch ein Werk ans einem Guß, und der Mann, der diese reiche Welt vor unsern Augen entfaltet, scheint sie von dem Gipfel eines hohen Berges rnhig nnd doch mit mächtiger, inniger Erregung nnd Teilnahme zu überschaue». Wir kennen keinen Volksdichter, der ein so reiches Gedicht geschaffen Hütte; es mutet uns wie ein modernes Epos an. Wir wissen wohl, wie viel Lob wir mit diesen Worten ans das Hanpt des noch wenig oder gar nicht bekannten Mannes häufen, aber man bedenke, daß Joachim in den „Brüdern" ein Abbild des gesamten schweizerischen Volkslebens in seinen Höhen uud Tiefen geschaffen hat. Wir sehen hinein in das sogenannte freie politische Leben des republikanischen Volkes; wir sehen es bei der Politik, am Konferenztisch, bei den alle Leidenschaften entfesselnden politischen Wahlen; wir sehen es in Handel und Wandel, am Wirtstisch nnd auf dem Jahrmarkt, iu der Kirche und vor der Kirche, auf dem Tnuzbodeu und in der Familie. Wir sehen es mit au, wie iu ein altes, weltabgelegenes Dorf die neue Zeit mit ihren Eisenbahnen und Fabriken, mit ihren Aktien uud verführerisch hohen Prozenten einzieht, aus dein ackerbauenden Dorfe eiueu Fabrikvrt macht und damit das ganze Dorf für eine Weile auf den Kopf stellt. Wir blickeu in die Gemeinderatssitzung hinein, wo Leute, die Nieder lese» »och schreiben können, über Schulangelegeuheiten beraten. Der Gmijcholm I 44.