146
Maßgebliches »nd Unmaßgebliches
Es ist tieftraurig, zu sehen, in wessen Händen sich die Pflege unsrer Litteratur befindet, aber noch betrübender ist die Wahrnehmung, daß sich unsre gebildeten Männer immer mehr von ihr zurückziehen und mit den Dichtungen der Gegenwart nichts mehr zu schaffen haben wollen, weil ihnen die Schriftsteller zuwider sind. Man sollte doch bedenken, daß ein Geschlecht, das für sein geistiges und seelisches Leben keinen dichterischen Ausdruck zn finden vermag, im Strome der Geschichte verschwindet, und daß keine Staatsaktionen, keine Schlachten und Eroberungen es vor diesem Schicksal bewahren können. Es steckt in unsern höhern Beamten, in unsern Offizieren und Landwirten so viel gesundes Urteil, so viel seiner litterarischer Geschmack, so viel schöpferischer Geist; warnm greifen sie nicht ordnend und fordernd, ermunternd und verurteilend in die Litteratur der Gegenwart ein? Die Nachwelt würde ihnen Dank zollen, wenn sie das geistige Erbe unsrer Väter als ein heiliges Besitztum unsers Volkes hochzuhalten verstünden. Wir haben in Deutschland so viele Fürsten, warum nimmt sich keiner des armen Aschenbrödels an, warum gehen sie alle naserümvfend an ihm vorüber? Wahrlich, wir sind eine beklagenswerte Nation!
Zweierlei Maß. Wenn sich die Partei, die sich in ihrer rühmenswerten Bescheidenheit als die „freisinnige" bezeichnet, im Gegensahe zur Negierung befindet und gegen deren Vorlagen redet nnd stimmt, dann beweist sie damit Charakterfestigkeit, Gesinnnngstüchtigkeit und „Männerstolz vor Königsthronen." Wer in solchem Falle mit der Regierung geht, giebt die Rechte des Volkes preis, ist ein „liebedienerischer," „serviler" Streber, macht sich des Byzantinismus schuldig, oder wie sonst die nrdeutschen Worte heißen mögen, mit denen eine gänzlich undeutsche Presse Eigenschaften bezeichnet, die dem deutschen Wesen fremd sind. Wenn aber, wie in den Handelsverträgen, Männer der konservativen Partei, die ebenso das Recht wie die Pflicht haben, den ihnen schädlich erscheinenden Vorlagen der Negiernng zu widersprechen, es wagen, dieses Recht und diese Pflicht auszuüben, dann bezeichnet dieselbe Presse, wenn sie die Vorlagen der Regierung gutheißt, jene Männer, die ehrlich nach ihrer besten Überzeugung handeln, mit dem verächtlichen Namen der „Fronde." Diese Presse, die sich selbst frei von allen Vorurteilen dünkt, ist außer stände, auch nur das erste Vorurteil zu überwinden, sie achtet nicht einmal die ehrliche Überzeugung des Gegners. Wären unsre Zustände gesund, dann wäre eine solche Behandlung politischer Gegner nicht denkbar, oder sie würde doch wenigstens, wenn sie sich hervorwngen sollte, von der Entrüstung des ganzen Volkes hinweggefegt werden. Was aber geschieht bei uns?
Maßgebliches und Unmaßgebliches