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Idealist und nur dadurch ein rechter Dichter. Nur weil er gar keine Erziehung genossen hatte, dachte er über die Aufgabe einer rechten Erziehung »ach, aus der Erfahrung eines Mangels schuf er ein Ideal in Fran Regula Amrhein — und nun möchten wir den Naturalisten sehen, der diesen Gottfried Keller noch als Anhänger seiner Kunstlehre zu bezeichnen den Mut hätte! Niemals märe Keller der Dichter geworden, als den wir ihn kennen, wenn er nur an der „Wirklichkeit" geklebt und nicht den Mut gefunden hätte, sich selbst und der Nation Ideale zu schaffen, denen sie nachleben und nachstreben sollte. Und als er in seinein Alter keine ausgiebige ^lraft zur Schöpfung von Idealen mehr fand und darum sich in der Erforschung der Wirklichkeit nicht mehr genug thun konnte, da empfand er es selbst als Mangel: er vermißte die „Poesie"! Es ist ein großes Verdienst Advls Freys, diese Thatsachen mitgeteilt zu haben, wie überhaupt sein Büchlein zu dem besten und schönsten gehört, was bisher über Keller geschrieben worden ist.
Frey erzählt in der schon angeführten Stelle: „Vor C. F. Meyer ver- redete Keller die historischen Stoffe einmal ganz und gar, da er ihrer Wirkung bei weitem nicht so sicher sei, wie der von ihm selbst geschauten, und nie wisse, ob er in der Wahrheit stehe." Auch diese Äußerung Kellers ist bedeutsam und sührt uns mitten in das Problem, das die gesamte Kunst C.F.Meyers bietet, auch seine neueste Novelle: Angela Bvrgici ^Leipzig, H. Haessel, 189t). Keller ward unsicher über die Wirkung historischer Stoffe. Das war ein rein subjektives Gefühl; bisher hat sich die Geschichte in den verschiedensten Formen der Darstellung noch immer sehr wirksam erwiesen, und die historischen Novellen Kellers selbst gehören nicht zu seinen geringsten Dichtungen. Allein Keller zweifelte, ob er in der Wahrheit stehe, wenn er historische Stoffe dichterisch behandle. Das ist eine viel wichtigere Frage, die in die ganze Tiese des Problems hinnbleuchtet. Ja, was ist Wahrheit? Wenn der Dichter Zeitgenossen schildert, dann kann er mit einigem Recht Anspruch auf Wahrheit erheben, denn er sieht und beobachtet Zustände und Charaktere mit eignen Augen, er fühlt den Zeitgenossen anfs innigste nach, da er alle Bedingungen des Lebens mit ihnen teilt. Seine Sprache ist die ihrige, seine Art zu sühlen bernht im großen und ganzen aus denselben Voraussetzungen, wie die ihrige; ja weil er ein klarerer Kopf ist als die große Menge, klärt er sie über ihr eignes Gefühl erst ans, er wird ihr Führer, ihr Sprecher. Insofern ist der Dichter bei dem modernen Stoff der Wahrheit sicher, weil er ans demselben „Milieu" heraus schreibt, fühlt, schaut, wie sein Publikum. Wenn er sich aber in eine langst entschwundne Zeit'Hineinschauen muß, wie ist es da mit der Wahrheit bestellt? Giebt es da überhaupt eine Wahrheit? Und wenn es eine giebt, was ist denn ihr Wesen? worin besteht sie? Diese Frage hat nicht bloß Keller beschäftigt, sondern es ist die Vexirfrage des ganzen Jahrhunderts. Sie ist aufgeworfen worden, nachdem man sich