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Schweizer Dichter
Naturalisten in ihrer bekannten Art angegriffen zn werden. Die Neutralität, unter deren Schutze der Schweizer politisch steht, scheint sich auch auf das Reich der Litteratur zu erstrecken. Im Namen Kellers glauben jedoch die Naturalisten für ihre Grundsätze Propaganda machen zu dürfen, ihn erklären sie für ihren Parteimann, weil einmal ein Besucher des Dichters auf seinein Tisch einen Roman von Zola hat liegen sehen, oder weil Keller auf den Wirklichkeitsgehalt feiner Schilderungen viel Wert gelegt hat. Dieser Legende werden nun die Erinnerungen an Gottfried Keller von Adolf Frey (Leipzig, Haesfel, 1892) ein Ende bereiten. Keller legte allerdings viel Wert auf die Wahrheit seiner Bilder, aber daß er in dieser Treue allein, nach Art der Naturalisten, die Poesie erblickt Hütte, davon war er weit entfernt. Frey — ein zuverlässiger Zeuge, deuu er hat mehr als ein Dutzend Jahre mit dem Dichter verkehrt uud sich mit Scharfsinn und Liebe in ihn eingelebt — erzählt: „Kellers Neigung für das Realistische steigerte sich mit den Jahren.. In seinem letzten Buche, im »Martin Salander«, beruht sozusagen Zug für Zng auf dem genauesten Studium. Aber hier gerade mußte er gewahren, daß für ihn in dem Evangelium des Realismus das ausschließliche Heil nicht lag. Er äußerte sich voll Unzufriedenheit über das Buch und verfiel während seiner Niederschrift, zumal während der letzten Partien, in manche trübe Stimmung. »Was haben Sie denn nur gegen das Werk?« fragte ich, »Sie sind ungerecht.« — »Was ich habe? Es ist nicht schön! Es ist nicht schön! Es ist zu wenig Poesie darin!« Die Strömung unsrer Zeit war nicht spurlos an ihm vorübergegangen, und er glaubte, abgewichen zu sein von dem sein Lebtag standhaft befolgten Wahlfpruch: »Wahr und schön!«" Das ist eine der denkwürdigsten Stellen in den Erinnerungen Adolf Freys. Daß der „Salander" Kellers poesieärmstes Werk ist, wnrde von allen seinen Freunden schon beim Erscheinen des Romans empfuudeu, freilich aus gebührender Pietät für den Dichter selten öffentlich gesagt oder gedruckt. Mit diesem Urteil stimmte also Kellers eignes Empfinden überein. Er war eben groß genug, selbstkritisch zu fein. Was aber eigentlich Poesie wäre, das brauchte der schöpferische Mann selbst gar nicht zu sagen; es war seine Sache, Poesie zu schaffen, nicht aber den Begriff von Poesie zu definiren, denn die Äußerung Kellers: „Poesie ist erhöhte Wirklichkeit" kann doch nicht als Definition des Begriffs bezeichnet werden. Es widerstrebte geradezu seiner echten Künstlerseele, sich philosophisch abstrakt mit den ästhetischen Begriffen auseiunnderzusetzeu. Keller haßte naturgemäß und instinktiv die Ästhetik als philosophische Wissenschaft, denn dem starke» Talent ist es ebenso widerwärtig, sich selbst bei der künstlerischen Thätigkeit zu belauschen, wie es einem thatkräftigen Manne widerstrebt, über den psychischen Vorgang bei einem Entschluß seines Willens und seiner Ausführung nachzugrübeln. Der Leidenschaftliche kann nicht zugleich über die Leidenschaft als Seelenerscheinung nachdenken. Der