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Geschichtsphilosophische Gedanken. 7
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im Jahre 1870 ausgesprochen hat, ehe noch das deutsche Reich vorhanden war, dazu ln'eteu doch nur große weltgeschichtliche Erschüttcrungeu deu Anlaß. Und auch für solche Fälle möchte sichs empfehlen, daß von den Abgeordnete», die diesen Willen durch Bewillignng der Kriegskosten aussprechen, jeder uicht im Nameu derNation" spräche, die zu befragen ihm gar nicht möglich ist, sondern im Namen seines Wahlkreises, dessen Bewohner er ganz gut befrageil kann. Keunt die Negieruug die Stimmung jedes eiuzelueu Wahlkreises, so keunt sie die Stimmung des ganzen Volkes; hat aber dieNation" im ganzen gesprochen durch eiu paar Herren, von deren keinem man weiß, ob er anch nnr seinen Wahlkreis hinter sich hat, so ist das so gut, als hätte niemand gesprochen, nnd die Negiernng schwebt mit ihren Entschließungen in der Luft. Fast in allen andern Fällen ist das Wort Volkswille eine lächerliche Redens­art, weil die eine Hälfte des Volkes gewöhnlich das gerade Gegenteil von dem will, was die andre will. Beide Hälften sehen nun wohl ein, daß jede der andern etwas uachgebeu müsse, aber wenn man eine solche nvtgedrungene Verzichtleistnng ans den eignen Willen als den Ausdruck des Volkswilleus bezeichnen wollte, so wäre das doch ein starker Euphemismus.

Vielleicht wirft jemand ein, daß es ja weniger der Volkswille als das Volkswohl sei, das der Abgeordnete zn vertreten habe. Aber wo steht denn geschrieben, daß dem Abgeordneten mit seinem Mandate die Offenbarnng des wirklichen und wahrhaftigen Volkswohls zu teil werde, über dessen Natur und Inhalt von deu Parteien beständig gestritten wird? Wenn die Zucker­fabrikanten und die Nübcnbauern eiues Kreises zur Erleichterung ihres gegen­seitigen Verkehrs eine Eisenbahn wünschen, so dürfte es schwer zu beweisen sein, daß hinter der Nichtbefriedigung dieses Wunsches eine Gefahr für Volk und Vaterland, für Staat und Reich lauere. Soll deswegen der Abgeordnete dieses Kreises seinen Beistand versagen? Freilich ist es nnr ein kleiner Bruch­teil des Volkes, dem mit der neuen Bahn eine Wohlthat erwiesen wird, aber wenn dieser kleine Teil sich ein wenig wohler fühlt, so liegt darin doch auch eine mittelbare Förderung des Gemeinwohls. Umgekehrt erfährt durch Gesetze fürs Ganze, über die jeder Einzelne klagt, dieses Ganze nur eine zweifelhafte Förderung. Man nennt solche Gesetze wahrscheinlich deswegen gern organische, weil sie nicht aus den Bedürfuisfeu uud Zustäuden herausgewachsen, sondern künstlich zugeschnitten und den widerstrebenden Volksmassen aufgezwungen worden, also das gerade Gegenteil von organisch sind. Was kann es Selbst­verständlicheres geben, als daß ein nnd dieselbe Gemeiudeordnung nicht gleich­zeitig für eine fchlesische Großbauerngemeinde, eine ostprenßische Kossüten- gemeinde und eine rheinische Kleinbanerngemeiude paßt? Und mit der Volks­schule der verschiedneu Provinzen verhält sichs ähnlich. Der Eifer für solche organische" Gesetze entstammt zunächst dem Umstände, daß die Büreaukratie sich selbst mit dem Staate und ihre eigne Bequemlichkeit, die ja doch mög-