<Lin Streifzug durch das Gestrüpp der Fraueufrage
83
einsehen, brauchen, um die Einsicht auch iu das ihnen anvertraute Geschlecht zu verpflanzen, nur durch Beispiel und durch Pflege bestimmter Herzens- und Vcrstandeskräfte zu wirken. Schwieriger ist es, das Mädchen so zu erziehen und zu bilden, daß es beiderlei Anforderungen gerecht werden kann; denu beim Manne schließen die Pflichterfüllung im Hause und die in der großen Welt einander nicht aus, während dies bei der Frau mit seltenen Ausnahmen der Fall ist. Die Ausbildung der Mädchen soll also, ohne deshalb die Einheitlichkeit einzubüßen, zwei Möglichkeiten als Ziel vor Augen haben, die Selbständigkeit und die Unselbständigkeit, zwischen denen oft erst entschieden wird, wenn die Erziehung längst vollendet ist. Deshalb muß das Hauptgewicht bei dieser auf die Eigenschaften gelegt werden, deren ein Mädchen, oder eigentlich jeder Mensch, vor allen andern in jeder Lebensstellung bedarf. Es muß das Gemüt gepflegt, der Verstand geschärft und strenge Pflichterfüllung zum obersten Gesetz erhoben werdeu. Der Mangel an Ernst und Strenge zieht in den Menschen den Dilettantismus groß, den künstlerischen nicht nur, sondern auch den seelischen; sie üben ihre Tugeudcn wie ihre Talente nur dann aus, wenn sie dazu aufgelegt sind. Bei Knaben sollte mehr, als es meist geschieht, der Sinn für Schönheit uud Wichtigkeit des Familienlebens geweckt werden; ihr Anteil nu den Genüssen, die es bietet, müßte zu ihren Leistungen an Gefälligkeiten, kleinen Ritterdiensten uud dergleichen in einein bestimmten Verhältnis stehn. Neben der früh bei ihnen erwachenden Erkenntnis, daß das weibliche Geschlecht nur zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf der Welt ist, müßte die zweite gepflegt werden, daß sie nicht nur dem Mädchen, in das sie gerade verliebt siud, sondern daß auch sie jedem Wesen, von dem sie etwas annehmen, das ihnen etwas leistet, zu Gegendiensten, freilich sehr verschiedncr Natur, verpflichtet sind. Ferner müßte jeden, Kinde mit der Zeit klar werden, daß man nicht bloß lernt, weil die andern auch lernen, oder um später erwerbe» zu könneu, oder um sich nicht infolge von Unkenntnis Blößen zu geben, sondern auch, weil durch lebendiges Lernen der Mensch besser wird und seine Mitmenschen sördert. Wer von dieser Auffassung durchdrungen ist, macht gewiß von diesem Standpunkt ans keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Bei beiden muß zunächst der Grund zur harmonischeu Ausbildung des Menschen als solchen gelegt werden, sowohl weil sich die Neigung zu einer besondern Ausbildung erst später zeigt, als auch weil ein schlecht oder nicht erzogener Mensch immer weniger wert ist als andre, mag er noch so viel gelernt haben. Die Ausbildung für den zukünftigen Beruf erscheint erst in zweiter Linie wichtig. Nun ist zwar richtig, daß ein Mädchen, um in seinem eigentlichen Berns tüchtig zu sein, sich keine wissenschaftlichen Kenntnisse anzueignen braucht, aber auch daß es diesen Beruf umso vollkommener erfüllen wird, je wohlerzogener, gebildeter und unterrichteter es ist. Ein Blaustrumpf ist ja uicht jede Frau, die viel gelernt hat, sondern nur eiue, die mehr gelernt