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Geschichtsphilosophische Gedanken. 6
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lichkeit der Willenskraft bei übermäßig schweren Anfvrdernngen der Gesellschaft oder aus unlösbaren Gewissenskonflikten entspringen, sind so häufig, daß mau die Weltgeschichte mit größer», Recht als einen beständigen Kampf der Vernunft gegen die Unvernunft menschlicher Einrichtungen bezeichnen könnte; doch würde auch das sehr einseitig sein. Dabei ist mich nicht zn vergessen, daß das sittlich Gnte ohne seinen Gegensatz weder begriffen noch geübt werden könnte, und wo bliebe in einem sündlosen Dasein die Komik? Ohne Sünde oder wenigstens ohne einen Beisatz von Sünde kommt sie kaum jemals vvr. Entweder liegt der Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Idee, über den wir lachen, selber ans dem sittlichen Gebiete, ist also an sich sündhaft, oder nusre Heiterkeit ist es, indem wir über ein Gebrechen, einen Unfall lachen, den wir eigentlich zn beklagen verpflichtet wären, oder wohl gar über ein Gutes, dem seine Ver­körperung mißlingt. Der Frömmigkeit z. V. gelingt es nur selten, erhaben oder liebenswürdig zu erscheinen und von ihrer Echtheit zu überzeugen; meistens erregt sie die Spottlust, sobald sie sich zeigt, und wenn eine geschlvssne Gesell­schaft von Frommen, eine Sekte oder ein religiöser Orden das Lachen aus ihrer Mitte gänzlich verbannt hat, so ertönt dafür desto kräftiger das Lachen, das sie bei den Dranßenstehenden erregt. Ein gesunder Geist aber kaun nicht ohne Grauen an die Ode und Mattigkeit denken, der die Welt verfallen müßte, wenn sie sich das Lachen abgewöhnt Hütte. Das Christentum mm enthält schlechterdings nichts Lächerliches; im ganzen Neuen Testament kommt uicht eine einzige Stelle vor, die Anlaß zum Gelächter gäbe; der bloße Gedanke daran erscheint uns sakrilegisch. Schon darum kanu das Christentum nicht die einzige, alle Geister und Lebensverhültnisse allein erfüllende, alle andern Elemente verdrängende Macht sein; es ist vielmehr nnr das unentbehrliche Salz der Erde, das die Menschheit vor Fäulnis bewahrt. Und so kommt es denn, daß diese Menschheit immer wieder in jenen Zwiespalt zurücksinkt, den die Reformation aufgehoben zn haben glaubte, daß sich von dem sündhaften, bald lächerlichen, bald schrecklichen, bald wenigstens profanen und ungeheiligten Alltagstreiben die Stunden religiöser Erhebung als feierliche uud seltne Ereig­nisse absondern.

Die profane Geschichtsphilvsophie mißversteht gewöhnlich den Begriff des Fortschritts. Sie glanbt, es müsse sich jederzeit aus einein Unvollkvinmneren ein Volllvmmneres erheben, und sobald dieses erschienen sei, habe jenes zu verschwinden. Dieser Fortschrittsbegriff beherrscht die Gemüter ganz besonders in Zeiten, wo sich eine neue Idee Bahn brechen will. Die Anhänger jeder neueu Idee pflegen zuversichtlich zu erwarte», daß es ihnen gelingen werde, alle altenIrrtümer" cmszurotten. Nach einiger Zeit bemerken sie dann, daß die altenIrrtümer" gerade noch so lustig fortwuchern wie zuvor, nnd daß am Ende die Welt nur um eine neue Sekte bereichert worden ist. Wohl uns, daß sich die Sache so verhält! Der Fortschritt in jenem Sinne, wie seine