Die deutsche Einheit
581
völkeruugsmenge diesem teilweise sogar überlegen. Dennoch ist das Bewußtsein davon, daß Rom die Hauptstadt ist und als solche die selbstverständliche Führerin ans allen Gebieten des öffentlichen Lebens, in der Politik wie in der Wissenschaft und Kunst, der geistige Mittelpunkt, dem die Schwesterstädte sich gern und willig beugen, so alldurchdriugend, jedem Italiener ein so unantastbarer Grundpfeiler seines Staatsgebäudes, daß wir Deutschen vor solchem Natioualgefühl beschämt die Augen niederschlagen müssen.
Wenn ein Ausländer in München oder Stuttgart die Postwertzeichen des Reiches für ungiltig erklärt sieht, wenn er liest, was kürzlich eine Zeitung rügte, wie es Baiern nur habe zugeben können, daß die Versicherungsmarken für Alter und Invalidität auch innerhalb der blauweißen Grenzen den Reichsadler tragen statt des allein berechtigten bairischen Löweu, wenn er bei Triuk- sprüchen auf den Landesherrn diesen auch als oberste,? Kriegsherrn der Armee gefeiert hört, wenn er in den Hauptstädten der europäischen Großmächte neben dem deutschen Botschafter eine Schar von diplomatischen Vertretern der deutschen Mittelstaaten ein zweckloses, aber darum nicht weniger selbstbewußtes Dasein führen sieht, wie in den Zeiten des seligen deutscheu Bundes — dann muß er eiueu sonderbaren Begriff von der deutschen Einheit bekommen. Dein Deutschen aber, der an diese Punkte rührt, wird mit dem Pathos loyalster Entrüstung das Wort „Reservate!" eutgegengeschleudert. Hände weg! das ist heiliges Land! Ja wohl, da sind sie, die Neservatrechte, von der Verfnsfung des Reiches verbrieft und geschirmt, und wohl kann von der Seite nicht daran gerüttelt werden, die sie bewilligt hat. Aber daß sie leben, zwanzig Jahre uach der Kaiser- feier zu Versailles, daß sie nicht allein Verteidiger fiudeu, sondern Freunde, die sie erweitern nnd verstärken möchten, das ist das Unbegreifliche. Damals waren sie nicht zu umgehen, um den mühsamen Bau des Reiches unter Dach zu bringen; sie waren der aufgedrungene Verzicht auf manche Klammer für die Festigung des Reiches. Wir haben damals froh und dankerfüllt das Nicht- fest des hehren Domes deutscher Einheit gefeiert. Aber wir haben anch gemeint, er sollte im Innern ausgebaut, vollendet werden, dnrch opfermutige Arbeit aller, die daran wirken, durch eine heilige Liebe zum großen Vaterlande, die willig von der eignen Hoheit hingäbe zur Ehre und zum Heile des Ganzen! Es ist nicht geschehen. Die Lücken und die Fugen sind nicht geschlossen, und leise, aber merklich nagt der Zeiten wechselvoller Lauf au dem schlecht verwahrten Bau.
Was wir hier schildern und was sich als Bild aus den Eiuzelzügen zusammensetzt, das ist viel mehr, als ein gelegentliches Aufflackern des Partiku- larismns. Es ist ein chronischer Partikularismus, das heißt, das mangelnde Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Geist der Spaltung und Zerklüftung, des Lockerns und Anseinanderstrebens. „Ihr Kaiser kommt zu uns," sagte zn mir, dem Preußen, vor Jahren einmal eine Frau aus den Dresdner Hofkreisen.